Adventskalender 2020
Adventskalender 2020
Am 1. Dezember um 18 Uhr und an den folgenden Tagen im Advent hätten wir uns auch in diesem Jahr gerne an jedem Abend zum lebendigen Adventskalender bei einem Haus in Nortmoor getroffen.
Leider ist das nicht möglich, und doch können wir einen gemeinsamen Adventskalender haben mit Fenstern aus Nortmoor und einer Geschichte dazu zum Selber-Lesen oder zum Vorlesen zu Hause bei einer Tasse Tee im Kerzenschein des Advent.
Genießen Sie jeden Tag einen ruhigen und besinnlichen Moment mit dem diesjährigen Nortmoorer Adventskalender.
Bleiben Sie gesund und Gott befohlen !
Leider ist das nicht möglich, und doch können wir einen gemeinsamen Adventskalender haben mit Fenstern aus Nortmoor und einer Geschichte dazu zum Selber-Lesen oder zum Vorlesen zu Hause bei einer Tasse Tee im Kerzenschein des Advent.
Genießen Sie jeden Tag einen ruhigen und besinnlichen Moment mit dem diesjährigen Nortmoorer Adventskalender.
Bleiben Sie gesund und Gott befohlen !
1. Stern über Bethlehem, zeig uns den Weg, / führ uns zur Krippe hin, zeig, wo sie steht, / leuchte du uns voran, bis wir dort sind, / Stern über Bethlehem, führ uns zum Kind!2. Stern über Bethlehem, nun bleibst du stehn / und läßt uns alle das Wunder hier sehn, / das da geschehen, was niemand gedacht, / Stern über Bethlehem, in dieser Nacht.3. Stern über Bethlehem, wir sind am Ziel, / denn dieser arme Stall birgt doch so viel. / Du hast uns hergeführt, wir danken dir, / Stern über Bethlehem, wir bleiben hier! 4. Stern über Bethlehem, kehrn wir zurück, / steht noch dein heller Schein in unserm Blick, / und was uns froh gemacht, teilen wir aus, / Stern über Bethlehem, schein auch zu Haus! EG 544
Herberge
Eigentlich bin ich ja ein verträglicher Mensch. Ich gehe nicht schnell in die Luft. Ich kann einiges einstecken. Aber heute muss ich mich einmal beschweren – ja, bei euch, die ihr heute so friedlich vorweihnachtlich beisammen sitzt. Warum beschweren? Immer wieder werde ich schlecht gemacht. Immer wieder zieht man über mich her, in fast jedem Krippenspiel und so ungefähr in jeder zweiten Weihnachtsgeschichte. Was habe ich denn getan – was habe ich euch denn getan, dass ich da ständig als Sündenbock herhalten muss?
Aber vielleicht stelle ich mich doch erst einmal vor. Habakuk heiße ich, und ich betreibe mit meiner Frau Dina eine Herberge in Bethlehem. Ich bin stolz auf meine Herberge – schon mein Ururgroßvater hat sie gegründet, und wir sind ein stolzes Haus, das kann ich sagen, 24 Zimmer, und die sind nicht übel. Natürlich geht es mal besser und mal schlechter, wir sind eben ein Saisonbetrieb, man muss sich schon anstrengen, wenn man das Erbe zusammenhalten und mehren will.
Also neulich, da hab ich mich richtig gefreut. Den Kaiser mag ich ja sonst nicht besonders, ich mag überhaupt keine Römer. Aber was ihm da eingefallen ist, das war schon toll. Eine Volkszählung, mitten im Spätherbst, wenn kein vernünftiger Mensch ohne ganz wichtigen Grund verreist. Wirklich gut, ein tolles Zusatzgeschäft außerhalb der Saison. Schon in den ersten Tagen hatte ich fast alle Zimmer voll. Viele kamen nach Bethlehem. Wenn ihr euch da nicht so auskennt: In Bethlehem ist 1000 Jahre vor mir unser König David der Große geboren worden. Viele sind stolz auf ihre Abstammung vom Königshaus – mag das nun stimmen oder nicht. Viele kamen jedenfalls, um sich hier bei uns eintragen zu lassen.
Eines Abends klopft es wieder an meiner Tür. „Wer kommt den jetzt noch?“, dachte ich mir. Ich ging hinaus, und da standen sie: Ein Mann, so um die dreißig, mit einer sehr jungen Frau – sie war sicher höchstens siebzehn, und sie war deutlich schwanger. Warum die jungen Mädchen immer nicht aufpassen!
Beide sahen nicht besonders gut aus. Von der langen Reise waren sie schmutzig und trotz der Kälte verschwitzt; die Frau saß auf einem ziemlich abgemagerten Esel. Ich erkannte sofort: Da lässt sich kein Geschäft machen. Und meine Frau flüsterte mir gleich ins Ohr: „Lass die bloß nicht rein, die machen sicher Ärger mit der Rechnung“. Und ich flüsterte zurück: „Ich habe alles im Griff.“
Laut fragte ich den jungen Mann: „Was kannst du zahlen?“
„Wie wäre es mit zwei Denaren pro Nacht?“, fragte er zurück.
„Na“, dachte ich mir, „so furchtbar arm scheint er gar nicht zu sein.“ Zwei Denare pro Nacht, das ist mein Normalpreis für ein einfaches Zimmer. Aber ich ließ mir nichts anmerken, nur mein Lachen war vielleicht ein bisschen zu künstlich. Ich lachte laut heraus: „Zwei Denare – guter Mann, das ist lächerlich. Du siehst doch, was in der Stadt los ist. Unter zehn kriegst du hier kein Mauseloch. Und ein anständiges Zimmer kostet mindestens zwanzig.“ Ja, so ähnlich sagte ich. Ich muss wirtschaftlich denken. Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis. Hohe Nachfrage – hoher Preis. So funktioniert Wirtschaft eben. Ehrlich: Ihr hättet das auch so gemacht – oder?
Tatsächlich konnte ich meine letzten Zimmer dann eine halbe Stunde später für dreißig Denare an eine reiche Kaufmannsfamilie vermieten. Ich wäre ja dumm gewesen, sie billiger herzugeben. Ich bin kein Unmensch – aber eben auch kein Dummkopf.
„Dann müssen wir eben anderswo suchen“, sagte die junge Frau, „komm, Josef, ich habe nicht mehr viel Zeit.“ Sie gingen weg. Traurig, aber ich bin ein Wirt und nicht das Sozialamt. Oder was hättet ihr getan?
Etwa eine Stunde später ging ich dann noch mal ums Haus, um die Fensterläden zu schließen. Und da sah ich sie wieder, immer noch auf der Suche. Der junge Mann ging schleppend, der Esel sah aus, als würde er jeden Moment zusammenbrechen, und die Frau saß ganz krumm auf dem Rücken des Tiers. Ein Zimmer hatte ich nun ja wirklich nicht mehr, und so konnte ich mir sagen: „Nichts zu machen.“
Aber hartnäckig sind die Leute schon. Als ich gerade wieder ins Haus gehen wollte, sprach mich der Mann an, ganz höflich und schüchtern: „Siehst du gar keine Möglichkeit mehr, dass wir irgendwo unterkommen? Wenn wir nicht bald was finden, wird meine Frau das Kind auf der Straße bekommen.“
Und da fiel mir ein: Ich hatte ja noch einen Raum, nicht besonders bequem, nicht besonders wohlriechend, aber immerhin mit vier Wänden und einem Dach. Ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliches Handeln, dachte ich mir. Ich ließ mein Herz erweichen: „Ich könnte euch im Stall unterbringen. Da ist Platz, da steht gerade bloß ein Ochse; den anderen musste ich letzte Woche zum Metzger bringen. Ich gebe euch den Raum für zwei Denare pro Nacht – aber ohne alles. Wenn ihr versprecht, keinen Ärger zu machen, dann könnt ihr erst einmal da bleiben.“
„Nein, Ärger machen wir sicher nicht“, versicherte der Mann, von dem ich inzwischen wusste, dass er Josef heißt, und wirkte sehr erleichtert. Ich war auch erst einmal froh. Zwei Denare sind zwei Denare; Krümel machen Brot – so sagt ihr doch auch, oder?
Hätte ich es nur nicht geglaubt, das mit dem „keinen Ärger machen.“ Erst ging alles gut. Die Leute bezogen mit ihrem Esel den Stall und waren ruhig. Aber dann ging es los. Um Mitternacht kam tatsächlich das Kind. Eine Wanne heißes Wasser wurde gebraucht. Ich stand auf, schürte den Herd an und kümmerte mich darum, setzte natürlich einen Denar extra auf die Rechnung und einen halben als Nachtzuschlag. Kaum war das Kind gebadet und gewickelt, fragten die Leute nach einer Wiege. Nein, so was habe ich wirklich nicht mehr, meine Kinder sind alle schon erwachsen. So legten sie ihr Kind in die leere Futterkrippe des zweiten Ochsen.
„Jetzt reicht es aber“, dachte ich mir. Doch es ging erst richtig los. Um zwei Uhr klopfte es an meine Tür. Gerade war ich eingeschlafen und schreckte auf. Ich wollte erst nicht aufmachen, aber die Klopfer gaben einfach keine Ruhe. Ich öffnete – draußen standen ein paar ziemlich wüste Gestalten, Hirten oder so; schmutzig und ungepflegt standen sie da.
„Ist bei dir der Messias gerade geboren worden?“
„Ja spinnt ihr jetzt völlig“, gab ich zurück, schon ein bisschen laut, „mitten in der Nacht so einen Lärm zu machen und so einen Unsinn zu fragen!“ – Oder was hättet ihr gesagt, wenn da wildfremde Leute so spät so ein Spektakel machen?
Was mich dann gewundert hat: Sie wussten, dass das Kind in der Krippe liegt. Zufall wahrscheinlich, aber ich war doch ziemlich verblüfft. Und um meine Ruhe zu haben sagte ich: „Gut, geht in den Stall und schaut euch das Kind an – aber in fünf Minuten geht ihr wieder.“ Und wieder war ich einfach zu gutherzig. Meint ihr, die wären nach fünf Minuten gegangen? Aus den fünf Minuten wurden zehn und zwanzig, dann fingen sie auch noch zu singen an, uralte Lieder von unserem König David. Ich habe ja nichts gegen Psalmen. Aber nachts um drei und mit den rauen Stimmen von Viehhütern– das muss ja wirklich nicht sein. Erst nach über einer geschlagenen Stunde sind die Hirten wieder gegangen, fast halb vier war es. Ich war richtig sauer. Ich brauche auch meinen Schlaf, genauso wir ihr.
Und immer noch war keine Ruhe. Die Hirten hatten zwei Lämmer mitgebracht. Um halb fünf fingen die wie wild das Blöken an. Richtig doof: Die Hirten hatten die Lämmer verschenkt, ohne sie zuvor noch mal zu füttern. Josef brauchte mich gar nicht zu wecken, das Geschrei hatte mich ohnehin schon wach gemacht. Ja – ich hatte noch ein Gefäß mit Milch da stehen. Ja, ich gab sie Josef. Ja, ich habe die Milch auf die Rechnung gesetzt. Aber was ist daran unanständig? Ich musste ja auch dafür bezahlen. Mir schenkt auch keiner was.
Das hatte ich nun davon: Eine schlaflose Nacht, nächtliche Besucher mit verrückten Fragen, am Morgen dann maulende Gäste: „Bringen Sie doch mal Ruhe ins Haus!“, keine Milch mehr zum Frühstück und im Stall ein Paar mit einem Neugeborenen, das ich wohl nicht so schnell loswerden konnte. „Das nächste Mal bleibst du hart“, sagte ich mir. Man wird nur ausgenützt. Reichst du den kleinen Finger, nehmen sie immer gleich die ganze Hand. Ich habe doch Recht – oder?
Der Ärger ging noch weiter. Nach drei Tagen hatte die junge Familie kein Geld mehr. Zurückreisen konnten sie noch nicht, die Warteschlangen bei den Volkszählungsbüros waren endlos, und die Frau brauchte auch noch ein paar Tage, um nach der Anreise und der Geburt wieder zu Kräften zu kommen. Rausschmeißen konnte ich die drei jetzt auch nicht mehr wegen dem Kind, das hätte doch zu sehr meinem Ruf geschadet. Ein Neugeborenes kann man nicht auf die Straße setzen. Zum Glück stellte sich heraus, dass Josef Zimmermann war. So ließ ich ihn ein paar Balken an meinem Dach auswechseln – die Arbeit war ohnehin fällig. So kam ich auch noch billig an eine Reparatur. Wenn ich schon den Ärger habe, dann will ich wenigstens eine Entschädigung – wie jeder vernünftige Mensch.
Nach einer Woche reisten sie dann ab. Ich wusste, dass sie kein Geld mehr haben. Den Wert von Josefs Arbeit setzte ich so an, dass doch noch ein bisschen Schulden blieben. So konnte ich die Leute ein wenig erziehen: „Überlegt vorher, wie ihr eure Reisen bezahlen wollt.“ Josef hat mir dann die beiden Lämmer in Zahlung gegeben, und so kam ich dann doch noch zu einem kleinen Gewinn.
Jetzt sagt selbst: Bin ich ein Unmensch? Ich habe nur getan, was die meisten anderen an meiner Stelle auch getan hätten. Ich bin ein Geschäftsmann, nicht ein Wohlfahrtsverein. Ich habe Leistungen geboten und sie mir ordentlich bezahlen lassen. Ich bin doch ein normaler Mensch. Seid ihr so sicher, dass ihr euch anders entschieden hättet? Also sucht euch jemand anderen, wenn ihr einen Buhmann sucht für eure Adventsfeiern!
Drei Sachen muss ich noch kurz anfügen.
Das erste: Die junge Frau hat sich tatsächlich noch bei mir bedankt. Ich weiß jetzt, dass sie Maria heißt, und sie hat „Dank euch, guter Habakuk. Gott segne euch!“ zu mir gesagt. „Guter Habakuk“ – das war mir fast ein bisschen peinlich.
Das zweite: Als sich Maria und Josef verabschiedeten, da war mir, als sähe das Kind mir für einen Augenblick ganz fest in die Augen. Es war ein Blick, wie ich ihn nie gesehen habe und schon gar nicht bei einem acht Tage alten Säugling. Seine Augen schienen endlos in die Tiefe zu führen, und wie durch eine Höhle hindurch meinte ich, in diesen Augen ein überirdisches Licht glänzen zu sehen. Das war keine Einbildung. Ich sage es nur euch. Mit dem Kind ist vielleicht doch etwas Besonderes.
Und ein drittes. Vor meinem Stall stand einmal ein Granatapfelbaum. Der wurde von meinem Großvater gefällt, als ich noch ein Kind war. Er brachte keine Früchte mehr. Der Baumstumpf steht heute noch da. Gelegentlich nimmt ihn jemand als Hocker. Auch Maria hat sich an sonnigen Tagen darauf gesetzt und ihr Kind gestillt. Und ob ihr’s glaubt oder nicht: Ein paar Tage, nachdem die drei abgereist waren, sah ich einen jungen Trieb an dem Baumstumpf. Und ein paar Wochen danach hat der Zweig doch tatsächlich geblüht. Ist das Zufall? Ich weiß es nicht. Aber mir kam in den Sinn, was unser Prophet Jesaja einmal geschrieben hat:
Aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor,
ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.
Der Geist des Herrn lässt sich nieder auf ihm:
der Geist der Weisheit und der Einsicht
der Geist des Rates und der Stärke,
der Geist der Erkenntnis und der Gottesfurcht.
Gerechtigkeit ist der Gürtel um seine Hüften,
Treue der Gürtel um seinen Leib.
Und ich frage euch, die ihr zweitausend Jahre nach mir lebt: Ist da wirklich aus diesem Kind, das in meinem Stall geboren wurde, etwas Großes geworden? War das wirklich der Messias, der Gesandte und Gesalbte Gottes, wie die Hirten meinten? Was meint ihr? Was wisst ihr? Was glaubt ihr?
erzählt von Peter Wünsche
Herberge
Eigentlich bin ich ja ein verträglicher Mensch. Ich gehe nicht schnell in die Luft. Ich kann einiges einstecken. Aber heute muss ich mich einmal beschweren – ja, bei euch, die ihr heute so friedlich vorweihnachtlich beisammen sitzt. Warum beschweren? Immer wieder werde ich schlecht gemacht. Immer wieder zieht man über mich her, in fast jedem Krippenspiel und so ungefähr in jeder zweiten Weihnachtsgeschichte. Was habe ich denn getan – was habe ich euch denn getan, dass ich da ständig als Sündenbock herhalten muss?
Aber vielleicht stelle ich mich doch erst einmal vor. Habakuk heiße ich, und ich betreibe mit meiner Frau Dina eine Herberge in Bethlehem. Ich bin stolz auf meine Herberge – schon mein Ururgroßvater hat sie gegründet, und wir sind ein stolzes Haus, das kann ich sagen, 24 Zimmer, und die sind nicht übel. Natürlich geht es mal besser und mal schlechter, wir sind eben ein Saisonbetrieb, man muss sich schon anstrengen, wenn man das Erbe zusammenhalten und mehren will.
Also neulich, da hab ich mich richtig gefreut. Den Kaiser mag ich ja sonst nicht besonders, ich mag überhaupt keine Römer. Aber was ihm da eingefallen ist, das war schon toll. Eine Volkszählung, mitten im Spätherbst, wenn kein vernünftiger Mensch ohne ganz wichtigen Grund verreist. Wirklich gut, ein tolles Zusatzgeschäft außerhalb der Saison. Schon in den ersten Tagen hatte ich fast alle Zimmer voll. Viele kamen nach Bethlehem. Wenn ihr euch da nicht so auskennt: In Bethlehem ist 1000 Jahre vor mir unser König David der Große geboren worden. Viele sind stolz auf ihre Abstammung vom Königshaus – mag das nun stimmen oder nicht. Viele kamen jedenfalls, um sich hier bei uns eintragen zu lassen.
Eines Abends klopft es wieder an meiner Tür. „Wer kommt den jetzt noch?“, dachte ich mir. Ich ging hinaus, und da standen sie: Ein Mann, so um die dreißig, mit einer sehr jungen Frau – sie war sicher höchstens siebzehn, und sie war deutlich schwanger. Warum die jungen Mädchen immer nicht aufpassen!
Beide sahen nicht besonders gut aus. Von der langen Reise waren sie schmutzig und trotz der Kälte verschwitzt; die Frau saß auf einem ziemlich abgemagerten Esel. Ich erkannte sofort: Da lässt sich kein Geschäft machen. Und meine Frau flüsterte mir gleich ins Ohr: „Lass die bloß nicht rein, die machen sicher Ärger mit der Rechnung“. Und ich flüsterte zurück: „Ich habe alles im Griff.“
Laut fragte ich den jungen Mann: „Was kannst du zahlen?“
„Wie wäre es mit zwei Denaren pro Nacht?“, fragte er zurück.
„Na“, dachte ich mir, „so furchtbar arm scheint er gar nicht zu sein.“ Zwei Denare pro Nacht, das ist mein Normalpreis für ein einfaches Zimmer. Aber ich ließ mir nichts anmerken, nur mein Lachen war vielleicht ein bisschen zu künstlich. Ich lachte laut heraus: „Zwei Denare – guter Mann, das ist lächerlich. Du siehst doch, was in der Stadt los ist. Unter zehn kriegst du hier kein Mauseloch. Und ein anständiges Zimmer kostet mindestens zwanzig.“ Ja, so ähnlich sagte ich. Ich muss wirtschaftlich denken. Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis. Hohe Nachfrage – hoher Preis. So funktioniert Wirtschaft eben. Ehrlich: Ihr hättet das auch so gemacht – oder?
Tatsächlich konnte ich meine letzten Zimmer dann eine halbe Stunde später für dreißig Denare an eine reiche Kaufmannsfamilie vermieten. Ich wäre ja dumm gewesen, sie billiger herzugeben. Ich bin kein Unmensch – aber eben auch kein Dummkopf.
„Dann müssen wir eben anderswo suchen“, sagte die junge Frau, „komm, Josef, ich habe nicht mehr viel Zeit.“ Sie gingen weg. Traurig, aber ich bin ein Wirt und nicht das Sozialamt. Oder was hättet ihr getan?
Etwa eine Stunde später ging ich dann noch mal ums Haus, um die Fensterläden zu schließen. Und da sah ich sie wieder, immer noch auf der Suche. Der junge Mann ging schleppend, der Esel sah aus, als würde er jeden Moment zusammenbrechen, und die Frau saß ganz krumm auf dem Rücken des Tiers. Ein Zimmer hatte ich nun ja wirklich nicht mehr, und so konnte ich mir sagen: „Nichts zu machen.“
Aber hartnäckig sind die Leute schon. Als ich gerade wieder ins Haus gehen wollte, sprach mich der Mann an, ganz höflich und schüchtern: „Siehst du gar keine Möglichkeit mehr, dass wir irgendwo unterkommen? Wenn wir nicht bald was finden, wird meine Frau das Kind auf der Straße bekommen.“
Und da fiel mir ein: Ich hatte ja noch einen Raum, nicht besonders bequem, nicht besonders wohlriechend, aber immerhin mit vier Wänden und einem Dach. Ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliches Handeln, dachte ich mir. Ich ließ mein Herz erweichen: „Ich könnte euch im Stall unterbringen. Da ist Platz, da steht gerade bloß ein Ochse; den anderen musste ich letzte Woche zum Metzger bringen. Ich gebe euch den Raum für zwei Denare pro Nacht – aber ohne alles. Wenn ihr versprecht, keinen Ärger zu machen, dann könnt ihr erst einmal da bleiben.“
„Nein, Ärger machen wir sicher nicht“, versicherte der Mann, von dem ich inzwischen wusste, dass er Josef heißt, und wirkte sehr erleichtert. Ich war auch erst einmal froh. Zwei Denare sind zwei Denare; Krümel machen Brot – so sagt ihr doch auch, oder?
Hätte ich es nur nicht geglaubt, das mit dem „keinen Ärger machen.“ Erst ging alles gut. Die Leute bezogen mit ihrem Esel den Stall und waren ruhig. Aber dann ging es los. Um Mitternacht kam tatsächlich das Kind. Eine Wanne heißes Wasser wurde gebraucht. Ich stand auf, schürte den Herd an und kümmerte mich darum, setzte natürlich einen Denar extra auf die Rechnung und einen halben als Nachtzuschlag. Kaum war das Kind gebadet und gewickelt, fragten die Leute nach einer Wiege. Nein, so was habe ich wirklich nicht mehr, meine Kinder sind alle schon erwachsen. So legten sie ihr Kind in die leere Futterkrippe des zweiten Ochsen.
„Jetzt reicht es aber“, dachte ich mir. Doch es ging erst richtig los. Um zwei Uhr klopfte es an meine Tür. Gerade war ich eingeschlafen und schreckte auf. Ich wollte erst nicht aufmachen, aber die Klopfer gaben einfach keine Ruhe. Ich öffnete – draußen standen ein paar ziemlich wüste Gestalten, Hirten oder so; schmutzig und ungepflegt standen sie da.
„Ist bei dir der Messias gerade geboren worden?“
„Ja spinnt ihr jetzt völlig“, gab ich zurück, schon ein bisschen laut, „mitten in der Nacht so einen Lärm zu machen und so einen Unsinn zu fragen!“ – Oder was hättet ihr gesagt, wenn da wildfremde Leute so spät so ein Spektakel machen?
Was mich dann gewundert hat: Sie wussten, dass das Kind in der Krippe liegt. Zufall wahrscheinlich, aber ich war doch ziemlich verblüfft. Und um meine Ruhe zu haben sagte ich: „Gut, geht in den Stall und schaut euch das Kind an – aber in fünf Minuten geht ihr wieder.“ Und wieder war ich einfach zu gutherzig. Meint ihr, die wären nach fünf Minuten gegangen? Aus den fünf Minuten wurden zehn und zwanzig, dann fingen sie auch noch zu singen an, uralte Lieder von unserem König David. Ich habe ja nichts gegen Psalmen. Aber nachts um drei und mit den rauen Stimmen von Viehhütern– das muss ja wirklich nicht sein. Erst nach über einer geschlagenen Stunde sind die Hirten wieder gegangen, fast halb vier war es. Ich war richtig sauer. Ich brauche auch meinen Schlaf, genauso wir ihr.
Und immer noch war keine Ruhe. Die Hirten hatten zwei Lämmer mitgebracht. Um halb fünf fingen die wie wild das Blöken an. Richtig doof: Die Hirten hatten die Lämmer verschenkt, ohne sie zuvor noch mal zu füttern. Josef brauchte mich gar nicht zu wecken, das Geschrei hatte mich ohnehin schon wach gemacht. Ja – ich hatte noch ein Gefäß mit Milch da stehen. Ja, ich gab sie Josef. Ja, ich habe die Milch auf die Rechnung gesetzt. Aber was ist daran unanständig? Ich musste ja auch dafür bezahlen. Mir schenkt auch keiner was.
Das hatte ich nun davon: Eine schlaflose Nacht, nächtliche Besucher mit verrückten Fragen, am Morgen dann maulende Gäste: „Bringen Sie doch mal Ruhe ins Haus!“, keine Milch mehr zum Frühstück und im Stall ein Paar mit einem Neugeborenen, das ich wohl nicht so schnell loswerden konnte. „Das nächste Mal bleibst du hart“, sagte ich mir. Man wird nur ausgenützt. Reichst du den kleinen Finger, nehmen sie immer gleich die ganze Hand. Ich habe doch Recht – oder?
Der Ärger ging noch weiter. Nach drei Tagen hatte die junge Familie kein Geld mehr. Zurückreisen konnten sie noch nicht, die Warteschlangen bei den Volkszählungsbüros waren endlos, und die Frau brauchte auch noch ein paar Tage, um nach der Anreise und der Geburt wieder zu Kräften zu kommen. Rausschmeißen konnte ich die drei jetzt auch nicht mehr wegen dem Kind, das hätte doch zu sehr meinem Ruf geschadet. Ein Neugeborenes kann man nicht auf die Straße setzen. Zum Glück stellte sich heraus, dass Josef Zimmermann war. So ließ ich ihn ein paar Balken an meinem Dach auswechseln – die Arbeit war ohnehin fällig. So kam ich auch noch billig an eine Reparatur. Wenn ich schon den Ärger habe, dann will ich wenigstens eine Entschädigung – wie jeder vernünftige Mensch.
Nach einer Woche reisten sie dann ab. Ich wusste, dass sie kein Geld mehr haben. Den Wert von Josefs Arbeit setzte ich so an, dass doch noch ein bisschen Schulden blieben. So konnte ich die Leute ein wenig erziehen: „Überlegt vorher, wie ihr eure Reisen bezahlen wollt.“ Josef hat mir dann die beiden Lämmer in Zahlung gegeben, und so kam ich dann doch noch zu einem kleinen Gewinn.
Jetzt sagt selbst: Bin ich ein Unmensch? Ich habe nur getan, was die meisten anderen an meiner Stelle auch getan hätten. Ich bin ein Geschäftsmann, nicht ein Wohlfahrtsverein. Ich habe Leistungen geboten und sie mir ordentlich bezahlen lassen. Ich bin doch ein normaler Mensch. Seid ihr so sicher, dass ihr euch anders entschieden hättet? Also sucht euch jemand anderen, wenn ihr einen Buhmann sucht für eure Adventsfeiern!
Drei Sachen muss ich noch kurz anfügen.
Das erste: Die junge Frau hat sich tatsächlich noch bei mir bedankt. Ich weiß jetzt, dass sie Maria heißt, und sie hat „Dank euch, guter Habakuk. Gott segne euch!“ zu mir gesagt. „Guter Habakuk“ – das war mir fast ein bisschen peinlich.
Das zweite: Als sich Maria und Josef verabschiedeten, da war mir, als sähe das Kind mir für einen Augenblick ganz fest in die Augen. Es war ein Blick, wie ich ihn nie gesehen habe und schon gar nicht bei einem acht Tage alten Säugling. Seine Augen schienen endlos in die Tiefe zu führen, und wie durch eine Höhle hindurch meinte ich, in diesen Augen ein überirdisches Licht glänzen zu sehen. Das war keine Einbildung. Ich sage es nur euch. Mit dem Kind ist vielleicht doch etwas Besonderes.
Und ein drittes. Vor meinem Stall stand einmal ein Granatapfelbaum. Der wurde von meinem Großvater gefällt, als ich noch ein Kind war. Er brachte keine Früchte mehr. Der Baumstumpf steht heute noch da. Gelegentlich nimmt ihn jemand als Hocker. Auch Maria hat sich an sonnigen Tagen darauf gesetzt und ihr Kind gestillt. Und ob ihr’s glaubt oder nicht: Ein paar Tage, nachdem die drei abgereist waren, sah ich einen jungen Trieb an dem Baumstumpf. Und ein paar Wochen danach hat der Zweig doch tatsächlich geblüht. Ist das Zufall? Ich weiß es nicht. Aber mir kam in den Sinn, was unser Prophet Jesaja einmal geschrieben hat:
Aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor,
ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.
Der Geist des Herrn lässt sich nieder auf ihm:
der Geist der Weisheit und der Einsicht
der Geist des Rates und der Stärke,
der Geist der Erkenntnis und der Gottesfurcht.
Gerechtigkeit ist der Gürtel um seine Hüften,
Treue der Gürtel um seinen Leib.
Und ich frage euch, die ihr zweitausend Jahre nach mir lebt: Ist da wirklich aus diesem Kind, das in meinem Stall geboren wurde, etwas Großes geworden? War das wirklich der Messias, der Gesandte und Gesalbte Gottes, wie die Hirten meinten? Was meint ihr? Was wisst ihr? Was glaubt ihr?
erzählt von Peter Wünsche
Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, / eu'r Herz zum Tempel zubereit'. / Die Zweiglein der Gottseligkeit / steckt auf mit Andacht, Lust und Freud; / so kommt der König auch zu euch, / ja, Heil und Leben mit zugleich. / Gelobet sei mein Gott, / voll Rat, voll Tat, voll Gnad. Komm, o mein Heiland Jesu Christ, / meins Herzens Tür dir offen ist. / Ach zieh mit deiner Gnade ein; / dein Freundlichkeit auch uns erschein. / Dein Heilger Geist uns führ und leit / den Weg zur ewgen Seligkeit. / Dem Namen dein, o Herr, / sei ewig Preis und Ehr. EG 1, 4-5
Vater und Sohn
Wie es gewesen sein könnte:
Es war der Tag genau 21 Jahre nach jener denkwürdigen Nacht in Bethlehem. Josef, Maria und Jesus waren wie immer in der Morgendämmerung aufgestanden, hatte zusammen das Morgengebet verrichtet und eine Kleinigkeit gegessen. Und wie immer ging Josef mit Jesus in die Werkstatt. Aber Josef griff nicht zum Hammer und nicht zur Säge. Er öffnete das Schreibpult, nahm einen Stapel zusammengehefteter Pergamentblätter heraus und drückte ihn Jesus in die Hand.
„Mein Sohn“, sagte er, „nach unseren Bräuchen und Gesetzen bist du mit dem heutigen Tag mündig. Ich lege dir diese Papiere in die Hand. Du kennst sie. Es ist unser Auftrags- und Rechnungsbuch. Es liegt jetzt in deiner Hand. Du hast sieben Jahre lang bei mir unser Handwerk gelernt. Aber in den letzten zwei Jahren war das schon keine richtige Lehre mehr. Du hast mir tatkräftig geholfen. Du kannst jetzt alles, was ich auch kann. Ich übergebe dir mit diesem Buch auch die Verantwortung. Mit dem heutigen Tag gehört unsere kleine Zimmermannsfirma dir.“
„Vater, traust du mir das wirklich zu?“, fragte Jesus, „und was willst du jetzt tun?“
„Du weißt, dass ich langsam alt werde“, antwortete Josef. „Meine Kräfte lassen nach. Ich werde dir noch helfen, so gut ich kann, ein paar Jahre noch wird mir Gott schon schenken. Aber das hier ist jetzt dein Geschäft, und ich weiß, dass du es gut führen kannst. Du wirst es weiter ausbauen, wirst eine Familie gründen, die nicht reich sein wird, aber ganz gut im Wohlstand leben kann.“
Lange schwieg Jesus. Er dachte nach. „Vater“, so sagte er dann einfühlsam, „Vater, das sind deine Pläne. Sie sind gut. Sie sind aus Liebe und Vertrauen gewachsen. Aber da ist noch etwas.“
Josef stutzte. Sollte er irgendetwas nicht bedacht haben? War ein Fehler in seinen Plänen? „Sprich, mein Sohn“, sagte er.
„Vater, ich fühle, dass all das auf Dauer nicht meine Berufung ist. Es ist schön übersichtlich hier in Nazareth. Aber wir kommen ja viel auf verschiedenen Baustellen in anderen Orten herum. Da sehen wir Elend: unendlichen Reichtum neben bitterer Armut, Menschen, die ausgenützt werden, Menschen, die keine Hoffnung haben, Menschen, die an den Menschen und dadurch auch an Gott verzweifeln. Wir sehen Ungerechtigkeit und Hartherzigkeit bis zum Hass. Viele haben Gottes Gebote vergessen. Viele haben Gott selbst vergessen. Das kann doch nicht so bleiben.“
„Und du, Jesus, willst dagegen etwas tun? Das ist unendlich mühsam. Das ist gefährlich, das kostet Kraft und vielleicht sogar dein Leben.“
„Vater, ich will nicht nur – ich muss etwas tun. Ich kann die Menschen nicht einfach in ihren Untergang laufen lassen. Ich muss ihnen Gottes Wort verkünden. Dazu bin ich berufen, ich fühle da ganz sicher.“
„Jesus, ich habe so etwas fast befürchtet“, sagte Josef leise. „Du wurdest geboren vor 21 Jahren – ich war dein Vater und war es doch nicht, es war geheimnisvoll. Ein Engel sagte mir im Traum, dass ich dich als Sohn annehmen soll. Ich tat es gläubig, ohne zu wissen, was kommt. Und damals im Tempel, du warst gerade zwölf, hast du mich erschreckt mit deinem Wort: ‚Ich muss im Haus meines Vaters sein.‘ Mit ‚Vater‘ meintest du Gott – nicht mich.“
„Ich wollte dir keine Angst machen. Aber ganz tief drinnen fühle ich, dass ich ganz und gar zu Gott gehöre, dass ich sein Kind, sein Sohn bin, mehr und anders als andere Menschen. Und ich weiß, dass ich von Gott einen Auftrag habe, dem kann ich gar nicht entkommen.“
Und Josef sagte: „Ich weiß es. Ich glaube, dass du Gott gehörst. Ich mache mir nur Sorgen um Maria. Wenn du weggehst – wer soll dann für sie sorgen?“
„Gott wird sorgen. Davon bin ich fest überzeugt. Aber ich spüre auch: Noch bin ich zu jung, um Prophet zu sein. Ich brauche noch einige Zeit, bis ich alt genug bin und ganz ernst genommen werde. Ich brauche noch einige Jahre Lebenserfahrung. In dieser Zeit kann ich durch die Arbeit meiner Hände unser Vermögen noch vermehren, so dass Maria dann davon leben kann. Aber es wird schwer werden, auch für sie. Doch wenn Gott Menschen braucht, darf es kein Nein geben.“
Beide schwiegen. Josef spürte: Seine eigenen Pläne waren gut, aber Gottes Pläne waren stärker. Jesus würde Prophet sein, wenn die Zeit dafür gekommen war. Er würde den Weg eines Propheten gehen. Er würde vielleicht das Schicksal eines Propheten erleiden. Aber Josef wusste: Mein Sohn gehört nicht mir. Er gehört Gott. Und wieder sagte Josef Ja – Ja aus Glauben.
So könnte es gewesen sein. Ob es so war – wer will das so genau wissen? Aber dass Josef so war – glaubend, mutig, ganz auf Gottes Pläne vertrauend, das wissen wir und zählen ihn unter die Väter des Glaubens.
erzählt von Peter Wünsche
Vater und Sohn
Wie es gewesen sein könnte:
Es war der Tag genau 21 Jahre nach jener denkwürdigen Nacht in Bethlehem. Josef, Maria und Jesus waren wie immer in der Morgendämmerung aufgestanden, hatte zusammen das Morgengebet verrichtet und eine Kleinigkeit gegessen. Und wie immer ging Josef mit Jesus in die Werkstatt. Aber Josef griff nicht zum Hammer und nicht zur Säge. Er öffnete das Schreibpult, nahm einen Stapel zusammengehefteter Pergamentblätter heraus und drückte ihn Jesus in die Hand.
„Mein Sohn“, sagte er, „nach unseren Bräuchen und Gesetzen bist du mit dem heutigen Tag mündig. Ich lege dir diese Papiere in die Hand. Du kennst sie. Es ist unser Auftrags- und Rechnungsbuch. Es liegt jetzt in deiner Hand. Du hast sieben Jahre lang bei mir unser Handwerk gelernt. Aber in den letzten zwei Jahren war das schon keine richtige Lehre mehr. Du hast mir tatkräftig geholfen. Du kannst jetzt alles, was ich auch kann. Ich übergebe dir mit diesem Buch auch die Verantwortung. Mit dem heutigen Tag gehört unsere kleine Zimmermannsfirma dir.“
„Vater, traust du mir das wirklich zu?“, fragte Jesus, „und was willst du jetzt tun?“
„Du weißt, dass ich langsam alt werde“, antwortete Josef. „Meine Kräfte lassen nach. Ich werde dir noch helfen, so gut ich kann, ein paar Jahre noch wird mir Gott schon schenken. Aber das hier ist jetzt dein Geschäft, und ich weiß, dass du es gut führen kannst. Du wirst es weiter ausbauen, wirst eine Familie gründen, die nicht reich sein wird, aber ganz gut im Wohlstand leben kann.“
Lange schwieg Jesus. Er dachte nach. „Vater“, so sagte er dann einfühlsam, „Vater, das sind deine Pläne. Sie sind gut. Sie sind aus Liebe und Vertrauen gewachsen. Aber da ist noch etwas.“
Josef stutzte. Sollte er irgendetwas nicht bedacht haben? War ein Fehler in seinen Plänen? „Sprich, mein Sohn“, sagte er.
„Vater, ich fühle, dass all das auf Dauer nicht meine Berufung ist. Es ist schön übersichtlich hier in Nazareth. Aber wir kommen ja viel auf verschiedenen Baustellen in anderen Orten herum. Da sehen wir Elend: unendlichen Reichtum neben bitterer Armut, Menschen, die ausgenützt werden, Menschen, die keine Hoffnung haben, Menschen, die an den Menschen und dadurch auch an Gott verzweifeln. Wir sehen Ungerechtigkeit und Hartherzigkeit bis zum Hass. Viele haben Gottes Gebote vergessen. Viele haben Gott selbst vergessen. Das kann doch nicht so bleiben.“
„Und du, Jesus, willst dagegen etwas tun? Das ist unendlich mühsam. Das ist gefährlich, das kostet Kraft und vielleicht sogar dein Leben.“
„Vater, ich will nicht nur – ich muss etwas tun. Ich kann die Menschen nicht einfach in ihren Untergang laufen lassen. Ich muss ihnen Gottes Wort verkünden. Dazu bin ich berufen, ich fühle da ganz sicher.“
„Jesus, ich habe so etwas fast befürchtet“, sagte Josef leise. „Du wurdest geboren vor 21 Jahren – ich war dein Vater und war es doch nicht, es war geheimnisvoll. Ein Engel sagte mir im Traum, dass ich dich als Sohn annehmen soll. Ich tat es gläubig, ohne zu wissen, was kommt. Und damals im Tempel, du warst gerade zwölf, hast du mich erschreckt mit deinem Wort: ‚Ich muss im Haus meines Vaters sein.‘ Mit ‚Vater‘ meintest du Gott – nicht mich.“
„Ich wollte dir keine Angst machen. Aber ganz tief drinnen fühle ich, dass ich ganz und gar zu Gott gehöre, dass ich sein Kind, sein Sohn bin, mehr und anders als andere Menschen. Und ich weiß, dass ich von Gott einen Auftrag habe, dem kann ich gar nicht entkommen.“
Und Josef sagte: „Ich weiß es. Ich glaube, dass du Gott gehörst. Ich mache mir nur Sorgen um Maria. Wenn du weggehst – wer soll dann für sie sorgen?“
„Gott wird sorgen. Davon bin ich fest überzeugt. Aber ich spüre auch: Noch bin ich zu jung, um Prophet zu sein. Ich brauche noch einige Zeit, bis ich alt genug bin und ganz ernst genommen werde. Ich brauche noch einige Jahre Lebenserfahrung. In dieser Zeit kann ich durch die Arbeit meiner Hände unser Vermögen noch vermehren, so dass Maria dann davon leben kann. Aber es wird schwer werden, auch für sie. Doch wenn Gott Menschen braucht, darf es kein Nein geben.“
Beide schwiegen. Josef spürte: Seine eigenen Pläne waren gut, aber Gottes Pläne waren stärker. Jesus würde Prophet sein, wenn die Zeit dafür gekommen war. Er würde den Weg eines Propheten gehen. Er würde vielleicht das Schicksal eines Propheten erleiden. Aber Josef wusste: Mein Sohn gehört nicht mir. Er gehört Gott. Und wieder sagte Josef Ja – Ja aus Glauben.
So könnte es gewesen sein. Ob es so war – wer will das so genau wissen? Aber dass Josef so war – glaubend, mutig, ganz auf Gottes Pläne vertrauend, das wissen wir und zählen ihn unter die Väter des Glaubens.
erzählt von Peter Wünsche
Lobt den Herrn, lobt den Herrn, unter uns erblüht sein Stern. Er will uns zu HIlfe kommen und er ist uns täglich nah; er kommt nicht nur zu den Frommen, er ist für uns alle da.
Lobt den Herrn, lobt den Herrn, er ist nicht mehr hoch und fern. Er hat allen Glanz verlassen, der ihn von den Menschen trennt, er geht jetzt durch unsre Straßen, wartet dass man ihn erkennt.
Lobt den Herrn, lobt den herrn, er hat seine Menschen gern. Hast du ihn noch nicht getroffen? Wird dir nicht sein Wort gesagt? Halt deine Türen offen, denn er hat nach dir gefragt. EG 538
Winzig klein
„Das ist heute für dich“, sagte der Vorarbeiter zu der jungen Frau. Die saß an einem Tisch in einer düsteren Hinterhoffabrik in China. Sie war dort als Malerin eingestellt. Das bedeutete: Eine Maschine stieß regelmäßig kleine Plastikfiguren aus, und die Malerinnen mussten ihnen dann mit ein paar Farbtupfern so etwas wie Leben einhauchen.
„Das ist also heute meine Arbeit“, sagte die junge Frau zu sich selbst. Es sah nicht nach viel aus: Ein Karton, nur etwa so groß wie eine Schuhschachtel, stand da vor ihr; der Vorarbeiter hatte ihn gerade abgestellt. Aber die Arbeiterin war skeptisch.
„Mal sehen, was drin ist.“ Sie hob den Deckel ab, und ihre Befürchtung wurde wahr: Eintausend kleine Figuren aus hautfarbenem Plastik lagen darin, kleine Kinder mit ausgebreiteten Armen, jedes nur etwa so groß wie ein Daumennagel. Das würde wieder eine lange, anstrengende Schicht werden. Die tausend winzigen Figuren waren einzeln zu bemalen, erst dann war Feierabend. Zehn, elf mühsame Stunden lagen vor ihr, und am Abend würden die Augen von der dauernden Anstrengung höllisch brennen.
Sie griff zum Pinsel und fing an zu malen. Jedes Kind bekam eine weiße Windel, goldblonde Haare, einen winzigen roten Mund und zwei tiefschwarze Augen, kleiner als Stecknadelköpfe. Sie versuchte ihre Arbeit so gut wie möglich zu machen, aber Eile war geboten. So saß manchmal der Mund nicht ganz in der Mitte, der winzige Haarschopf war nicht gleichmäßig gefärbt, die Augen nicht exakt gleich groß. Aber sie wusste: Bei diesen winzigen Figuren, jede ziemlich genau zwei Zentimeter hoch, da schaute niemand mehr so genau hin. Masse stand vor Qualität.
Sie wusste auch, dass die winzigen Kinder für Europa bestimmt waren. Sie hatten etwas mit der christlichen Religion zu tun. An Weihnachten feierten die Christen die Geburt von Jesus, und sie glaubten, dass da Gott selbst in die Welt kam. Die Arbeiterin wusste nicht viel vom Christentum, aber der Gedanke war ihr sympathisch: Gott, der in die Welt der kleinen Menschen kommt, der Menschen wie sie selbst, in die Welt der Arbeiter, die sich für einen Minilohn abmühten, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Vielleicht konnte sie einmal mehr über diesen Christengott erfahren, der sich in einem kleinen Kind zeigt.
Über diesen Gedanken hatte sie 999 Figuren geschafft. Es war Abend geworden. Eine Figur war noch unbemalt. Und die Arbeiterin tat, was sie immer zu tun pflegte: Wenigstens eine der tausend Figuren sollte wirklich schön sein. Sie nahm sich am Ende ihrer Schicht trotz der Müdigkeit fast eine Viertelstunde Zeit, die letzte Figur zu bemalen: schön sorgfältig, mit gleichgroßen Augen, ohne Farbkleckse an der falschen Stelle. Schließlich war sie zufrieden: Es war das schönste Kind der Schicht geworden. Sie ließ die Farbe kurz trocknen und legte das winzige Kind mit den anderen 999 zurück in den Karton. „Gute Reise, mein Kleiner“, flüsterte sie ihm zu. „Hoffentlich wissen die Leute in Europa dich auch zu schätzen.“
***
Ein paar Wochen später schlenderte ein Mann mittleren Alters über den Weihnachtsmarkt der großen Stadt. Nein – das wollte er tun. In Wirklichkeit schlenderte er gar nicht, sondern er wurde über den Weihnachtsmarkt gedrückt und geschoben und gezerrt, und seine Versuche, eine Lücke im Gedränge zu finden, scheiterten immer wieder. Da steckte er manchmal fest zwischen Magenbrot, Marzipanstollen und Mandelbrennereien. Am engsten war es um die Glühweinstände herum. Es war der Samstag vor dem zweiten Adventssonntag, anscheinend genau der Tag, an dem die anderthalb Millionen Einwohner der Stadt Geschenke kaufen wollten, alle auf einmal. Der Mann kämpfte sich schließlich zu einem Stand mit Holzspielwaren durch. Für seine sechsjährige Tochter wollte er ein paar neue Möbel kaufen, die zu ihrem Puppenhaus passten. Er fand, was er suchte: ein Kinderbett, einen Tisch, einen Schrank, zwei Stühle und einen kleinen Teppich. Alles handgefertigt und nicht ganz billig – aber hübsch anzusehen; seiner Tochter würde das alles sehr gefallen.
Er machte sich auf den Heimweg. Als er dem größten Gewühl entkommen war, fielen ihm am Rand des Marktes einige Stände auf, an denen es ruhiger zuging. Über den Buden hing ein Schild: „Krippenmarkt“. Er hatte noch etwas Zeit und sah sich einen Stand näher an. Seine Augen blieben an einer Schachtel hängen, in der winzige Jesuskinder aus Plastik lagen. Er konnte nicht anders, als einige davon prüfend in die Hand zu nehmen. Wahrscheinlich chinesische Serienware, billig und schlicht.
Aber eines dieser winzigen Kinder fiel ihm auf. Es war sorgfältiger bemalt als die anderen, es schien ihn mit winzigen und doch großen Augen anzusehen. Es schaute auf das Preisschild; die Plastikfigur kostete nicht einmal halb so viel wie ein Glas Glühwein. Er kaufte das schöne Kindchen; die Verkäuferin packte die Winzigkeit sorgfältig ein, und der Mann steckte sie vorsichtig in seinen Geldbeutel. Zuhause verpackte er am Abend die Puppenmöbel für seine Tochter in roter Geschenkfolie. Und mit einem winzigen Klecks Klebstoff befestigte er das kleine Jesuskind außen auf dem Paket.
Zwanzig Tage später war Heiligabend. Nach der Kindermette wurden die Geschenke verteilt. „Ist das süß!“, rief Maria, die Erstklässerin. „Was meinst du?“, fragte der Vater, „du hast doch dein Paket noch gar nicht aufgemacht“. „Na das winzige Jesuskind da“, antwortete Maria. „Ich freue mich, wenn es dir gefällt“, sagte ihr Vater, „ich hatte schon gar nicht mehr daran gedacht.“
Maria zog sich in ihr Zimmer zurück, baute die neuen Puppenmöbel auf. Das winzige Jesuskind legte sie in das neue Kinderbett. Das passte zwar nicht wirklich, das Bettchen war mindestens fünfmal so groß wie das Kind – aber was machte das schon. Maria war die Kleinste in ihrer Klasse und wurde dafür manchmal gehänselt. Aber jetzt konnte sie für jemand da sein, der noch viel, viel, viel kleiner war. Es war ein glücklicher Heiliger Abend.
***
Das Jahr verging. Maria kam im Herbst in die zweite Klasse, ihr Bruder Josef in die erste. Josef hatte es schwer in der Schule. Nicht wegen der Lehrer, sondern wegen zweier Jungen aus der Nachbarschaft. Auch Josef gehörte zu den Kleineren in der Klasse, und die Nachbarjungen ließen ihn das deutlich spüren. Als sie ihm kurz vor den Weihnachtsferien den Zeichenblock zerrissen und seine Mütze klauten – wenn auch nur im Übermut – wollte Josef gar nicht mehr in die Schule gehen. Die Eltern versuchten ihn zu trösten. Und Maria kam auf eine Idee: Ich schenke meinem Bruder etwas ganz Schönes.
Sie nahm das winzige Jesuskind und gab es am Heiligen Abend ihrem Bruder Josef: „Schau mal, da ist einer, der auch ganz schwach aussieht – und doch kommt er von Gott und hat große Macht.“ Das tolle Gefühl, etwas wirklich Gutes getan zu haben, machte auch diesen Heiligen Abend für Maria wunderschön.
***
Josef hatte natürlich kein Puppenhaus, und so steckte er das winzige Jesuskind in seine Hosentasche. Immer, wenn die größeren Nachbarjungen ihm zu nahe kamen, fühlte er in seiner Tasche die Figur, und das gab ihm Kraft, so manches auszuhalten und auch mal auf ihre Beleidigungen eine schlagfertige Antwort zu finden.
Doch dann, im späten Winter, geschah das Unglück. Als Josef das Taschentuch herauszog, fiel die kleine Figur auf die nasse Straße. Er bemerkte zwar sein Missgeschick, hob das Jesuskind schnell wieder auf und wischte es mit seinem Taschentuch ab.
„Was hast du denn da?“ ertönte eine Stimme hinter ihm.
„Zeig mal“, sagte die andere.
Er brauchte gar nicht hinzusehen, da waren wieder seine Peiniger. Und bevor er sich versah, hatten sie ihm die Figur aus der Hand gerissen.
„Ach, unser kleiner Josef spielt mit Puppen“, sagte die eine Stimme, „wie ein Mädchen“, die andere.
„Gib her!“, rief Josef.
„Hol‘s dir doch, dein Püppchen“, hörte er.
Der Nachbarjunge nahm Schwung und warf die winzige Figur in weitem Bogen weg. Sie war klein und leicht, und so flog sie weiter und höher als geplant. Sie landete in der Dachrinne, unerreichbar, weg für immer. Weinend ging Josef heim.
***
So lag die Figur auf dem Dach; sie hatte sich an einer Ecke der Dachrinne festgeklemmt, der Regen konnte sie nicht fortspülen. Der Frühling kam. Die Vögel bauten ihre Nester. Einer Amsel fiel die kleine Figur auf. Sie merkte schnell, dass sie nicht fressbar war, aber wie Singvögel so sind, baute sie die bunte Figur einfach in ihr Nest mit ein. Der Sommer kam, vier junge Amseln verließen das Nest und zuletzt auch die Alte. Der Herbst kam, es wurde Anfang Dezember, der erste Wintersturm zog über das Land und brachte schon ein bisschen Schnee.
Nach dem Sturm schien die Sonne wieder; Maria und Josef nutzten das schöne Wetter und gingen trotz der Kälte hinaus in den Garten. Unter einem Baum lag ein verlassenes Amselnest, von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Der Sturm hatte es vom Baum geblasen. Die Geschwister nahmen das Nest hoch, befreiten es vom Schnee – und trauten ihren Augen nicht. Da war in das Nest ein winziges Jesuskind eingewoben. Und an den schönen Augen erkannten sie sofort: Das ist unser Jesuskind.
Drei Wochen später war wieder Weihnachten. Das wunderbar wiedergefundene winzige Jesuskind lag in einer aus einer Streichholzschachtel gebastelten Krippe unter dem Christbaum und lächelte alle an. Es wurde wieder ein friedliches und glückliches Weihnachtsfest.
***
Was meint Ihr? Ist die Geschichte wahr – oder habe ich die erfunden? Was ist mit dieser Geschichte von dem winzigen Plastikjesuskind, das in einer Fabrik in China geboren wurde, das die Menschen anrührte und zur Liebe anstiftete, das verloren war und wiedergefunden wurde, das Gewalt erlitt und neu zum Leben kam? Ganz oder teilweise so geschehen? Wahr oder ausgedacht? Oder kann vielleicht auch Erfundenes trotzdem wahr sein?
Eines ist sicher: Das winzige Jesuskind gibt es wirklich. Ich habe es hier in meiner Hand.
erzählt von Peter Wünsche
Lobt den Herrn, lobt den Herrn, er ist nicht mehr hoch und fern. Er hat allen Glanz verlassen, der ihn von den Menschen trennt, er geht jetzt durch unsre Straßen, wartet dass man ihn erkennt.
Lobt den Herrn, lobt den herrn, er hat seine Menschen gern. Hast du ihn noch nicht getroffen? Wird dir nicht sein Wort gesagt? Halt deine Türen offen, denn er hat nach dir gefragt. EG 538
Winzig klein
„Das ist heute für dich“, sagte der Vorarbeiter zu der jungen Frau. Die saß an einem Tisch in einer düsteren Hinterhoffabrik in China. Sie war dort als Malerin eingestellt. Das bedeutete: Eine Maschine stieß regelmäßig kleine Plastikfiguren aus, und die Malerinnen mussten ihnen dann mit ein paar Farbtupfern so etwas wie Leben einhauchen.
„Das ist also heute meine Arbeit“, sagte die junge Frau zu sich selbst. Es sah nicht nach viel aus: Ein Karton, nur etwa so groß wie eine Schuhschachtel, stand da vor ihr; der Vorarbeiter hatte ihn gerade abgestellt. Aber die Arbeiterin war skeptisch.
„Mal sehen, was drin ist.“ Sie hob den Deckel ab, und ihre Befürchtung wurde wahr: Eintausend kleine Figuren aus hautfarbenem Plastik lagen darin, kleine Kinder mit ausgebreiteten Armen, jedes nur etwa so groß wie ein Daumennagel. Das würde wieder eine lange, anstrengende Schicht werden. Die tausend winzigen Figuren waren einzeln zu bemalen, erst dann war Feierabend. Zehn, elf mühsame Stunden lagen vor ihr, und am Abend würden die Augen von der dauernden Anstrengung höllisch brennen.
Sie griff zum Pinsel und fing an zu malen. Jedes Kind bekam eine weiße Windel, goldblonde Haare, einen winzigen roten Mund und zwei tiefschwarze Augen, kleiner als Stecknadelköpfe. Sie versuchte ihre Arbeit so gut wie möglich zu machen, aber Eile war geboten. So saß manchmal der Mund nicht ganz in der Mitte, der winzige Haarschopf war nicht gleichmäßig gefärbt, die Augen nicht exakt gleich groß. Aber sie wusste: Bei diesen winzigen Figuren, jede ziemlich genau zwei Zentimeter hoch, da schaute niemand mehr so genau hin. Masse stand vor Qualität.
Sie wusste auch, dass die winzigen Kinder für Europa bestimmt waren. Sie hatten etwas mit der christlichen Religion zu tun. An Weihnachten feierten die Christen die Geburt von Jesus, und sie glaubten, dass da Gott selbst in die Welt kam. Die Arbeiterin wusste nicht viel vom Christentum, aber der Gedanke war ihr sympathisch: Gott, der in die Welt der kleinen Menschen kommt, der Menschen wie sie selbst, in die Welt der Arbeiter, die sich für einen Minilohn abmühten, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Vielleicht konnte sie einmal mehr über diesen Christengott erfahren, der sich in einem kleinen Kind zeigt.
Über diesen Gedanken hatte sie 999 Figuren geschafft. Es war Abend geworden. Eine Figur war noch unbemalt. Und die Arbeiterin tat, was sie immer zu tun pflegte: Wenigstens eine der tausend Figuren sollte wirklich schön sein. Sie nahm sich am Ende ihrer Schicht trotz der Müdigkeit fast eine Viertelstunde Zeit, die letzte Figur zu bemalen: schön sorgfältig, mit gleichgroßen Augen, ohne Farbkleckse an der falschen Stelle. Schließlich war sie zufrieden: Es war das schönste Kind der Schicht geworden. Sie ließ die Farbe kurz trocknen und legte das winzige Kind mit den anderen 999 zurück in den Karton. „Gute Reise, mein Kleiner“, flüsterte sie ihm zu. „Hoffentlich wissen die Leute in Europa dich auch zu schätzen.“
***
Ein paar Wochen später schlenderte ein Mann mittleren Alters über den Weihnachtsmarkt der großen Stadt. Nein – das wollte er tun. In Wirklichkeit schlenderte er gar nicht, sondern er wurde über den Weihnachtsmarkt gedrückt und geschoben und gezerrt, und seine Versuche, eine Lücke im Gedränge zu finden, scheiterten immer wieder. Da steckte er manchmal fest zwischen Magenbrot, Marzipanstollen und Mandelbrennereien. Am engsten war es um die Glühweinstände herum. Es war der Samstag vor dem zweiten Adventssonntag, anscheinend genau der Tag, an dem die anderthalb Millionen Einwohner der Stadt Geschenke kaufen wollten, alle auf einmal. Der Mann kämpfte sich schließlich zu einem Stand mit Holzspielwaren durch. Für seine sechsjährige Tochter wollte er ein paar neue Möbel kaufen, die zu ihrem Puppenhaus passten. Er fand, was er suchte: ein Kinderbett, einen Tisch, einen Schrank, zwei Stühle und einen kleinen Teppich. Alles handgefertigt und nicht ganz billig – aber hübsch anzusehen; seiner Tochter würde das alles sehr gefallen.
Er machte sich auf den Heimweg. Als er dem größten Gewühl entkommen war, fielen ihm am Rand des Marktes einige Stände auf, an denen es ruhiger zuging. Über den Buden hing ein Schild: „Krippenmarkt“. Er hatte noch etwas Zeit und sah sich einen Stand näher an. Seine Augen blieben an einer Schachtel hängen, in der winzige Jesuskinder aus Plastik lagen. Er konnte nicht anders, als einige davon prüfend in die Hand zu nehmen. Wahrscheinlich chinesische Serienware, billig und schlicht.
Aber eines dieser winzigen Kinder fiel ihm auf. Es war sorgfältiger bemalt als die anderen, es schien ihn mit winzigen und doch großen Augen anzusehen. Es schaute auf das Preisschild; die Plastikfigur kostete nicht einmal halb so viel wie ein Glas Glühwein. Er kaufte das schöne Kindchen; die Verkäuferin packte die Winzigkeit sorgfältig ein, und der Mann steckte sie vorsichtig in seinen Geldbeutel. Zuhause verpackte er am Abend die Puppenmöbel für seine Tochter in roter Geschenkfolie. Und mit einem winzigen Klecks Klebstoff befestigte er das kleine Jesuskind außen auf dem Paket.
Zwanzig Tage später war Heiligabend. Nach der Kindermette wurden die Geschenke verteilt. „Ist das süß!“, rief Maria, die Erstklässerin. „Was meinst du?“, fragte der Vater, „du hast doch dein Paket noch gar nicht aufgemacht“. „Na das winzige Jesuskind da“, antwortete Maria. „Ich freue mich, wenn es dir gefällt“, sagte ihr Vater, „ich hatte schon gar nicht mehr daran gedacht.“
Maria zog sich in ihr Zimmer zurück, baute die neuen Puppenmöbel auf. Das winzige Jesuskind legte sie in das neue Kinderbett. Das passte zwar nicht wirklich, das Bettchen war mindestens fünfmal so groß wie das Kind – aber was machte das schon. Maria war die Kleinste in ihrer Klasse und wurde dafür manchmal gehänselt. Aber jetzt konnte sie für jemand da sein, der noch viel, viel, viel kleiner war. Es war ein glücklicher Heiliger Abend.
***
Das Jahr verging. Maria kam im Herbst in die zweite Klasse, ihr Bruder Josef in die erste. Josef hatte es schwer in der Schule. Nicht wegen der Lehrer, sondern wegen zweier Jungen aus der Nachbarschaft. Auch Josef gehörte zu den Kleineren in der Klasse, und die Nachbarjungen ließen ihn das deutlich spüren. Als sie ihm kurz vor den Weihnachtsferien den Zeichenblock zerrissen und seine Mütze klauten – wenn auch nur im Übermut – wollte Josef gar nicht mehr in die Schule gehen. Die Eltern versuchten ihn zu trösten. Und Maria kam auf eine Idee: Ich schenke meinem Bruder etwas ganz Schönes.
Sie nahm das winzige Jesuskind und gab es am Heiligen Abend ihrem Bruder Josef: „Schau mal, da ist einer, der auch ganz schwach aussieht – und doch kommt er von Gott und hat große Macht.“ Das tolle Gefühl, etwas wirklich Gutes getan zu haben, machte auch diesen Heiligen Abend für Maria wunderschön.
***
Josef hatte natürlich kein Puppenhaus, und so steckte er das winzige Jesuskind in seine Hosentasche. Immer, wenn die größeren Nachbarjungen ihm zu nahe kamen, fühlte er in seiner Tasche die Figur, und das gab ihm Kraft, so manches auszuhalten und auch mal auf ihre Beleidigungen eine schlagfertige Antwort zu finden.
Doch dann, im späten Winter, geschah das Unglück. Als Josef das Taschentuch herauszog, fiel die kleine Figur auf die nasse Straße. Er bemerkte zwar sein Missgeschick, hob das Jesuskind schnell wieder auf und wischte es mit seinem Taschentuch ab.
„Was hast du denn da?“ ertönte eine Stimme hinter ihm.
„Zeig mal“, sagte die andere.
Er brauchte gar nicht hinzusehen, da waren wieder seine Peiniger. Und bevor er sich versah, hatten sie ihm die Figur aus der Hand gerissen.
„Ach, unser kleiner Josef spielt mit Puppen“, sagte die eine Stimme, „wie ein Mädchen“, die andere.
„Gib her!“, rief Josef.
„Hol‘s dir doch, dein Püppchen“, hörte er.
Der Nachbarjunge nahm Schwung und warf die winzige Figur in weitem Bogen weg. Sie war klein und leicht, und so flog sie weiter und höher als geplant. Sie landete in der Dachrinne, unerreichbar, weg für immer. Weinend ging Josef heim.
***
So lag die Figur auf dem Dach; sie hatte sich an einer Ecke der Dachrinne festgeklemmt, der Regen konnte sie nicht fortspülen. Der Frühling kam. Die Vögel bauten ihre Nester. Einer Amsel fiel die kleine Figur auf. Sie merkte schnell, dass sie nicht fressbar war, aber wie Singvögel so sind, baute sie die bunte Figur einfach in ihr Nest mit ein. Der Sommer kam, vier junge Amseln verließen das Nest und zuletzt auch die Alte. Der Herbst kam, es wurde Anfang Dezember, der erste Wintersturm zog über das Land und brachte schon ein bisschen Schnee.
Nach dem Sturm schien die Sonne wieder; Maria und Josef nutzten das schöne Wetter und gingen trotz der Kälte hinaus in den Garten. Unter einem Baum lag ein verlassenes Amselnest, von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Der Sturm hatte es vom Baum geblasen. Die Geschwister nahmen das Nest hoch, befreiten es vom Schnee – und trauten ihren Augen nicht. Da war in das Nest ein winziges Jesuskind eingewoben. Und an den schönen Augen erkannten sie sofort: Das ist unser Jesuskind.
Drei Wochen später war wieder Weihnachten. Das wunderbar wiedergefundene winzige Jesuskind lag in einer aus einer Streichholzschachtel gebastelten Krippe unter dem Christbaum und lächelte alle an. Es wurde wieder ein friedliches und glückliches Weihnachtsfest.
***
Was meint Ihr? Ist die Geschichte wahr – oder habe ich die erfunden? Was ist mit dieser Geschichte von dem winzigen Plastikjesuskind, das in einer Fabrik in China geboren wurde, das die Menschen anrührte und zur Liebe anstiftete, das verloren war und wiedergefunden wurde, das Gewalt erlitt und neu zum Leben kam? Ganz oder teilweise so geschehen? Wahr oder ausgedacht? Oder kann vielleicht auch Erfundenes trotzdem wahr sein?
Eines ist sicher: Das winzige Jesuskind gibt es wirklich. Ich habe es hier in meiner Hand.
erzählt von Peter Wünsche
1. Das Volk, das noch im Finstern wandelt - / bald sieht es Licht, ein großes Licht. / Heb in den Himmel dein Gesicht / und steh und lausche, weil Gott handelt. 2. Die ihr noch wohnt im Tal der Tränen, / wo Tod den schwarzen Schatten wirft: / Schon hört ihr Gottes Schritt, ihr dürft / euch jetzt nicht mehr verlassen wähnen.3. Er kommt mit Frieden. Nie mehr Klagen, / nie Krieg, Verrat und bittre Zeit! / Kein Kind, das nachts erschrocken schreit, / weil Stiefel auf das Pflaster schlagen.4. Die Liebe geht nicht mehr verloren. / Das Unrecht stürzt in vollem Lauf. / Der Tod ist tot. Das Volk jauchzt auf / und ruft: »Uns ist ein Kind geboren!«5. Man singt: »Ein Sohn ist uns gegeben, / Sohn Gottes, der das Zepter hält, / der gute Hirt, das Licht der Welt, / der Weg, die Wahrheit und das Leben.«6. Noch andre Namen wird er führen: / Er heißt Gottheld und Wunderrat / und Vater aller Ewigkeit. / Der Friedefürst wird uns regieren!7. Dann wird die arme Erde allen / ein Land voll Milch und Honig sein. / Das Kind zieht als ein König ein, / und Davids Thron wird niemals fallen.8. Dann stehen Mensch und Mensch zusammen / vor eines Herren Angesicht, / und alle, alle schaun ins Licht, / und er kennt jedermann mit Namen. Zum LiedDas Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude. Vor dir wird man sich freuen, wie man sich freut in der Ernte, wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt. Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt.Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf daß seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, daß er's stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Jesaja 9,1.2.4--6
Und im sechsten Monat wurde der Engel Gabriel von Gott gesandt in eine Stadt in Galiläa, die heißt Nazareth, zu einer Jungfrau, die vertraut war einem Mann mit Namen Josef vom Hause David; und die Jungfrau hieß Maria. Und der Engel kam zu ihr hinein und sprach: Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir! Sie aber erschrak über die Rede und dachte: Welch ein Gruß ist das? Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria! Du hast Gnade bei Gott gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben. Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben. Da sprach Maria zu dem Engel: Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Manne weiß? Der Engel antwortete und sprach zu ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden. Und siehe, Elisabeth, deine Verwandte, ist auch schwanger mit einem Sohn, in ihrem Alter, und ist jetzt im sechsten Monat, sie, von der man sagt, dass sie unfruchtbar sei. Denn bei Gott ist kein Ding unmöglich. Maria aber sprach: Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast. Und der Engel schied von ihr.
Maria aber machte sich auf in diesen Tagen und ging eilends in das Gebirge zu einer Stadt in Juda und kam in das Haus des Zacharias und begrüßte Elisabeth. Und es begab sich, als Elisabeth den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leibe. Und Elisabeth wurde vom Heiligen Geist erfüllt und rief laut und sprach: Gesegnet bist du unter den Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes! Und wie geschieht mir, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? Denn siehe, als ich die Stimme deines Grußes hörte, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leibe. Ja, selig ist, die da geglaubt hat! Denn es wird vollendet werden, was ihr gesagt ist von dem Herrn.
Und Maria sprach: Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes; 48 denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder. Denn er hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist und dessen Name heilig ist. Und seine Barmherzigkeit währet für und für bei denen, die ihn fürchten. Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen. Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf, wie er geredet hat zu unsern Vätern, Abraham und seinen Nachkommen in Ewigkeit. Und Maria blieb bei ihr etwa drei Monate; danach kehrte sie wieder heim.
Lukas 1, 26-56
Und im sechsten Monat wurde der Engel Gabriel von Gott gesandt in eine Stadt in Galiläa, die heißt Nazareth, zu einer Jungfrau, die vertraut war einem Mann mit Namen Josef vom Hause David; und die Jungfrau hieß Maria. Und der Engel kam zu ihr hinein und sprach: Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir! Sie aber erschrak über die Rede und dachte: Welch ein Gruß ist das? Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria! Du hast Gnade bei Gott gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben. Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben. Da sprach Maria zu dem Engel: Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Manne weiß? Der Engel antwortete und sprach zu ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden. Und siehe, Elisabeth, deine Verwandte, ist auch schwanger mit einem Sohn, in ihrem Alter, und ist jetzt im sechsten Monat, sie, von der man sagt, dass sie unfruchtbar sei. Denn bei Gott ist kein Ding unmöglich. Maria aber sprach: Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast. Und der Engel schied von ihr.
Maria aber machte sich auf in diesen Tagen und ging eilends in das Gebirge zu einer Stadt in Juda und kam in das Haus des Zacharias und begrüßte Elisabeth. Und es begab sich, als Elisabeth den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leibe. Und Elisabeth wurde vom Heiligen Geist erfüllt und rief laut und sprach: Gesegnet bist du unter den Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes! Und wie geschieht mir, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? Denn siehe, als ich die Stimme deines Grußes hörte, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leibe. Ja, selig ist, die da geglaubt hat! Denn es wird vollendet werden, was ihr gesagt ist von dem Herrn.
Und Maria sprach: Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes; 48 denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder. Denn er hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist und dessen Name heilig ist. Und seine Barmherzigkeit währet für und für bei denen, die ihn fürchten. Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen. Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf, wie er geredet hat zu unsern Vätern, Abraham und seinen Nachkommen in Ewigkeit. Und Maria blieb bei ihr etwa drei Monate; danach kehrte sie wieder heim.
Lukas 1, 26-56
1. (Vorsänger): O komm, o komm, du Morgenstern *, / laß uns dich schauen, unsern Herrn. / Vertreib das Dunkel unsrer Nacht / durch deines klaren Lichtes Pracht.
(Alle): Freut euch, freut euch, der Herr ist nah. / Freut euch und singt Halleluja.
2. (Vorsänger): O komm, du Sohn aus Davids Stamm, / du Friedensbringer, Osterlamm. / Von Schuld und Knechtschaft mach uns frei / und von des Bösen Tyrannei.
(Alle): Freut euch, freut euch, der Herr ist nah. / Freut euch und singt Halleluja.
3. (Vorsänger): O komm, o Herr, bleib bis ans End, / bis daß uns nichts mehr von dir trennt, / bis dich, wie es dein Wort verheißt, / der Freien Lied ohn Ende preist.
(Alle): Freut euch, freut euch, der Herr ist nah. / Freut euch und singt Halleluja. EG 19
Ankunft
Ankunft
Man schrieb den 19. Dezember. Die Sonne war schon hinter dem Horizont verschwunden. In den Städten herrschte noch hektischer Betrieb, der Countdown für den heiligen Abend war angelaufen.
Aber es gab auch Orte, die ganz anders waren. In hunderten von Kirchen und Kapellen hatten sich Schwestern und Mönche zum Vespergottesdienst versammelt, zum feierlichen Abendlob. Eine Dichtung aus dem Frühmittelalter sah die Ordnung der Kirche für diesen Abend vor, einen Gesang aus der Reihe der O-Antiphonen. Das war eine Serie altehrwürdiger Texte, die für die Tage vor Weihnachten reserviert waren. Und fast gleichzeitig ertönte um diese Stunde zwischen Tag und Nacht der Gesang aus den Klöstern:
O Spross aus der Wurzel Jesse,
gesetzt zum Zeichen über die Völker –
vor dir verstummen die Herrscher der Erde,
dich flehen an die Völker:
O komm und errette uns,
erhebe dich,
säume nicht länger.
gesetzt zum Zeichen über die Völker –
vor dir verstummen die Herrscher der Erde,
dich flehen an die Völker:
O komm und errette uns,
erhebe dich,
säume nicht länger.
Der Mönch Johannes war einer von den vielen, die den Vers sangen. Und er fühlte, wie das Gebet Raum und Zeit überwand. Es kam in der Ewigkeit an. Der Herr hörte das Singen. Und der Herr beschloss: Heute geht diese Bitte in Erfüllung.
Es fielen keine Sterne vom Himmel. Der Herr kam leise.
Keiner außer Johannes hatte sein Kommen bemerkt. Der Herr setzte sich ins Chorgestühl zwischen die Mönche und sang mit Ihnen die Vesper zu Ende. Johannes sah staunend, wie er sich nach dem Segen erhob und zu den Mönchen sagte: „Euer Gebet hat sich erfüllt. Ich komme – jetzt.“ Ohne ein weiteres Wort ging er aus der Kirche hinaus in die Stadt. Zurück blieb eine Gruppe Mönche, die einen etwas ratlosen Eindruck machten.
***
„Das war heute der letzte Tag“, so begrüßte der Herr den Supermarkt-Manager. – „Ihr Kalender geht wohl falsch“, erhielt er zur Antwort, „vier Tage Weihnachtsgeschäft stehen noch aus.“
„Der Jüngste Tag ist da“ sprach der Herr den Werbetexter an. – „Cooler Spruch“, gab der zurück, „klingt aber zu altmodisch.“
„Mein Gott, Jüngster Tag, was ziehe ich da bloß an?“ fragte die Gräfin.
„Und wo gibt es Karten für das Event?“, fragte ihn der Fernsehmoderator.
„Da bin ich“ – „Wer?“ – „Jesus, den man den Christus nennt.“ – „Krieg’ ich ein Autogramm?“
„Friede sei mit dir“, begrüßte er den Kriegsminister. „Bloß nicht, dann verliere ich ja meinen Job.“
„Hallo!“ – „Stör mich nicht“, sagte der Junge, ohne von seinem Gameboy aufzublicken. „Ich bin gerade auf dem siebten Level.“ – „Morgen wirst du noch eine andere Stufe kennen lernen.“ „Was, gibt es noch ein höheres Level im Spiel?“ „Nein, in der Wirklichkeit.“
„Der Jüngste Tag ist da.“ – „Geht jetzt die Welt unter?“ fragte die Marktfrau. „Nein, sie geht neu auf.“
„Ich bin wiedergekommen“. – „Wie, was, wiedergekommen?“ fragte der Theologieprofessor. – „Hast schon richtig verstanden. Ich bin wieder da. Du hast doch in deinen Büchern selbst immer wieder davon geschrieben.“– „Ja, aber doch nicht so. Hast du das wirklich wörtlich und ernst gemeint mit dem Wiederkommen“ – „Ja, wie denn sonst?“ – „So richtig todernst?“ „Eher lebendig ernst“, gab der Herr zurück.
„Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit“, sang die Gemeinde gerade in der Abendmesse. – „Ihr habt recht, da bin ich, gerade bin ich am Kommen.“ – „Stören Sie nicht den Gottesdienst!“, herrschte ihn der Pfarrer an.
„Still, still, still, weil’s Kindlein schlafen will!“, sang der Chor in der Weihnachtsfeier des Trachtenvereins. – „Liebe Leute, das ist ja ganz nett, aber ich bin schon längst kein Kind mehr – und außerdem hellwach.“ – „Als Erwachsener rührst du uns nicht an.“ – „Ich habe viele angerührt und geheilt.“ – „Lass die Spitzfindigkeiten. Stänkerer können wir hier nicht brauchen.“
„Nun komm der Heiden Heiland“ übte der Organist am großen Instrument im Münster. – „Ich bin da“, sagte der Herr. „Wer – ich?“ – „Ich, der Heiland der Völker.“ – „Ach so ja, der Text ..., daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ich interessiere mich bloß für Bachs Musik.“
Im Bischöflichen Ordinariat war noch Sitzung. Der Herr klopfte an und stellte sich vor. „Ihr könnt einpacken. Die Zeit Kirche ist vorbei, in ein paar Stunden ist Gottes Reich Wirklichkeit.“ – „Herr, das ist nicht fair. Gerade ist unser Seelsorgeplan fertig geworden. Jetzt war die ganze Arbeit umsonst.“
„Du kannst Feierabend machen“, sagte er zu dem arbeitslosen Mann, der das Klo im Stadtpark säuberte für einen Euro pro Stunde. „Morgen ist Sonntag.“ – „Wieso, morgen ist doch erst Mittwoch?“ – „Nein, morgen ist Sonntag, übermorgen auch, und überhaupt für immer.“ –„Und die Kohle kommt trotzdem?“ „Nein, ab morgen ist alles frei.“ „Super. Herrlich. Danke!“
„Wer bist du?“ – „Ich bin’s, Jesus, der Herr.“ – „Stimmt“, sagte das blinde Mädchen, „ich kann dich deutlich sehen.“
„Ach, du bist’s“, sagte der beinlose Ex-Soldat, „ich gehe gleich mit.“
„Geht’s jetzt mit mir zu Ende?“ fragte der Alte in seinem Pflegebett. – „Nein, es fängt an, ganz anders und ganz neu.“
„Du siehst ja fast so aus wie unser toter Sohn“, sagte das ältere Paar. – „Ja, ich sehe jedem lebendigen Menschen ähnlich.“
***
„Johannes, schläfst du?“
„Meinst du mich, Herr?“ Bruder Johannes schlug die Augen auf. Es war nicht der Herr, der vor ihm stand. Es war Bruder Benedikt.
„He, was ist los mit dir?“
„Mein Gott, ich muss wohl einen Augenblick beim Beten eingenickt sein. Aber ich bereue es nicht. Ich hatte einen seltsamen, wunderbaren Traum.“
Und gemeinsam sangen sie den Vers aus dem Magnificat:
Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen.
Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben
und lässt die Reichen leer ausgehn.
Es war Advent – Ankunft.
erzhlt von Peter Wünsche
erzhlt von Peter Wünsche
Seht, die gute Zeit ist nah, Gott kommt auf die Erde , kommt und ist für alle da, kommt, dass Friede werde, kommt, dass Friede werde.
Hirt und König, Groß und Klein, Kranke und Gesunde, Arme, Reiche lädt er ein, freut euch auf die Stunde, freut euch auf die Stunde. EG 18
Johannes
Johannes saß am Ufer. Vor ihm quälte sich müde der Fluss durch den Schlamm. Es war Oktober; die Hitze des Sommers hatte nachgelassen, aber der Regen des Winters stand noch aus. Der Fluss war nur noch ein trübes Rinnsaal, das nichts zu tun hatte mit der frischen Flut des Frühjahrs.
Johannes sah den herbstlichen Fluss als Gleichnis für sein Leben und dachte zurück. Da war ein froher Frühling gewesen. Johannes war der einzige Sohn seiner Eltern, die vom Alter her auch hätten seine Großeltern sein können. Da sie wussten, dass ihnen nicht viel Zeit blieb, gaben sie alles für ihren Sohn – gaben sie alles an Liebe, was sie geben konnten. Die Mutter Elisabeth konnte Johannes noch eine reiche Kindheit bereiten; sie starb, als Johannes gerade anfing, dem Kindesalter zu entwachsen. Der alte Vater Zacharias kümmerte sich von da an allein um seinen Sohn, und er machte das wirklich gut. Einen Monat im Jahr musste er als Priester Dienst im Tempel tun. Johannes durfte ihn dabei begleiten, seit die Mutter gestorben war – dreizehn Jahre war er damals alt. Er sollte eines Tages Priester werden wie sein Vater. Zum Priester wurde man als Sohn eines Priesters geboren im Volk Juda.
Der erste Besuch im Tempel war atemberaubend gewesen. König Herodes hatte das Haus Gottes prachtvoll erweitern lassen, ganz im Stil der großen Welt. Der Tempel stand in einer Reihe mit den großen Bauten der großen Nachbarvölker. Überall glänzte es von Marmor und Gold, ein schwerer Duft von Weihrauch hing über dem Gelände, die kunstvollen Gesänge der Leviten erklangen morgens und abends. Dutzende von Opfern wurden dargebracht im Lauf eines Tages. Johannes war überwältigt und hatte gespürt: Hier muss Gott ganz nahe sein.
Aber je älter Johannes wurde, desto mehr hatte sich seine Sicht des Tempels getrübt. Mit vierzehn Jahren erlebte er, wie ein blinder Bettler nicht in den Tempel gelassen wurde – er war aufgrund seiner Behinderung unrein und musste draußen bleiben wie ein Hund. Mit fünfzehn fing er an, die Machenschaften der Geldwechsler zu durchschauen: Die Tempelsteuer musste in einer alten Währung entrichtet werden, die im Alltag nicht mehr vorkam. Alle mussten ihr Geld wechseln – und den größten Nutzen hatten die Wechsler selbst. Mit sechzehn Jahren spürte er, dass es da einen großen Bruch gab: Die Priester und Lehrer am Tempel verkündeten Gottes Wort. Es gab unter ihnen viele wie seinen Vater, denen es ernst war. Aber da waren andere, die handelten ganz anders, als sie redeten. Eigentlich gab es keines unter den zehn Geboten, das von ihnen nicht gebrochen wurde. Das reichte tatsächlich bis zum Mord: Das begriff Johannes mit siebzehn Jahren. Denn die Hohenpriester zahlten für ihren Dienst einen hohen Preis. Der Tempel konnte nur aufrecht erhalten werden, wenn die obersten Vertreter der Priesterschaft mit den Römern zusammenarbeiteten. Echte oder auch nur vermeintliche Feinde der Römer mussten ausgeliefert werden, und die Römer kannten für solche Leute nur eine Strafe: den Tod am Kreuz. Johannes wusste, dass sein Vater sich von solchen Machenschaften fern hielt; er verriet nie einen Glaubensgenossen. Aber er konnte bei ihm nicht mehr lange Trost und Geborgenheit finden, denn als Johannes achtzehn Jahre alt geworden war, starb sein Vater Zacharias.
Johannes war nicht Priester geworden. Kurz bevor er zum ersten Mal Dienst tun sollte, tat er auch nach außen, was er innerlich längst vollzogen hatte: Er wanderte aus. Er zog sich ganz zurück. Aber es war nicht ein zielloser Rückzug, es war die Suche nach Gott. Im Tempel konnte er ihn nicht mehr finden. Dafür war der in den Augen des Johannes zu sehr beschmutzt. Johannes ging da hin, wo nach den uralten Erzählungen sein Volk zum ersten Mal Gott begegnet war: in die Wüste. Sieben Jahre hatte er als junger Mann in der Wüste gelebt, Heuschrecken, wilden Honig und andere Dinge gegessen, die nur mühsam zu gewinnen sind. Aber diese mühselige Sorge für sein Leben führte ihn an die Wurzel. Viel mehr als im Tempel fühlte er dort zwischen Schakalen und Geiern, zwischen unerträglicher Hitze und frostiger Kälte die Nähe Gottes. Er nahm sich Zeit für diese Erfahrung, er betete viel und horchte in den lautlosen Nächten auf die Stimme seines Herzens, ob sich ihm dort Gott mitteilte. Und Gott hatte geantwortet.
Johannes hatte den Entschluss gefasst, wieder unter die Menschen zu gehen. Aber er tat das nicht als wohlbestallter Priester. Er trat in ganz andere Fußstapfen: Er nahm die Worte der alten Propheten auf, wurde selbst ein Prophet. Und er war überzeugt, dass das sein Weg war. Johannes wurde deutlich: Ihr Schlangenbrut – das war eines seiner Lieblingsworte, die er den Priestern und Schriftgelehrten entgegen warf. Gott wird kommen, er wird Gericht halten; im Feuer wird eure falsche Welt verbrennen – und ihr Heuchler mit ihr zusammen.
Seine Reden hatten erst einmal Eindruck gemacht. Seine Worte waren nicht nur auf taube Ohren gestoßen. Viele waren gekommen, hatten mehr von ihm hören wollen. Und er hatte diese schöne Idee mit der Taufe gehabt – oder besser: Gott hatte sie ihm eingegeben. Um dem Feuer des Gerichts zu entgehen, ließ er die Leute im Fluss untertauchen, ließ sie als sündhafte Menschen symbolisch sterben, damit sie als neue, gereinigte Menschen wieder aus dem Wasser hervorkamen. Viele vollzogen die Taufe mit großem Ernst. Aber ebenso viele waren gekommen, hatte sich taufen lassen, waren zurückgegangen und hatten genauso weiter betrogen, gelogen und manchmal auch gemordet wie vorher. Je schärfer seine Worte wurden, desto erfolgloser schienen sie ihm. Und manche waren nur an den Fluss gekommen, um etwas Aufregendes zu sehen: einen Propheten, dessen Stimme den Mächtigen entgegendonnerte – eine Abwechslung, eine Sensation, mehr nicht. Das alles waren die Sommergewitter seines Lebens gewesen.
Und nun schien es ihm Herbst geworden zu sein im Leben des Johannes, obwohl er erst wenige Jahre über die dreißig war. Das Interesse der Leute hatte nachgelassen, sie suchten sich neue Neuigkeiten. Er wusste, dass die Mächtigen nach ihm fahndeten, denn er hatte sie scharf angegriffen. Er war seines Lebens nicht mehr sicher. Seine Energie war verbraucht – aber wirklich geändert hatte er nichts. Das trübe Rinnsal zu seinen Füßen war ein Bild seines Lebens. Bald könnte es ganz versiegen.
***
„Warum bist du so traurig?“
Johannes hörte hinter sich eine Stimme, die er kannte. Er musste sich gar nicht umdrehen, um zu wissen: Joschua war gekommen, die Griechen nannten ihn Jesus. Joschua war ein entfernter Vetter von ihm, aber viel näher als die lose Blutsverwandtschaft verband sie ein gemeinsamer Geist. Johannes war froh, dass gerade Joschua auftauchte. Die Nähe eines anderen Menschen hätte er jetzt nicht ausgehalten.
„Ich denke nach“, sagte Johannes. „Ich denke nach, ob das schon alles war. Manchmal fühle ich mich wie eine Lampe, die das Leben der Menschen durchleuchtet. Aber die Leute haben nur ein wenig am Licht gespielt. Und jetzt ist die Lampe am Verlöschen. Ich hatte gedacht, Gott greift ein, greift endlich ein mit seinem Gerichtsfeuer. Aber nichts ist geschehen. Ich habe die Menschen gewarnt, aber jetzt lachen sie über mich. Sie haben sich nicht geändert – außer einigen wenigen. Aber Gott lässt mich jetzt sitzen mit meiner Botschaft vom Gericht, vom Gericht, das nicht kommt.“
„Johannes, du hast getan, was du konntest“. So versuchte Joschua ihn zu trösten. „Du hattest deinen Ruf als Prophet, und du hast ihn bestens erfüllt.“
„Aber erfolglos.“
„Erfolg ist nicht der Name Gottes. Das ist das eine. Ein zweites kommt dazu: Du hast Recht mit deiner Meinung über die Menschen. Da ist viel Böses. Und da kommt ein drittes hinzu: Die Menschen brauchen Mahnungen und Warnungen, sie brauchen jemand, der sie immer wieder an Gottes Weisung erinnert, der ihnen immer wieder ihr Unrecht vorhält. Das hast du getan mit aller Kraft. Aber da ist ein viertes: Allein damit lassen die Menschen sich nicht verändern. Sie sind so tief in Schuld verstrickt, dass sie sich gar nicht selbst daraus befreien können.“
„Also lässt Gott den Menschen alles durchgehen? Kein Gericht? Ewiges Recht für die Verbrecher?“
Und Joschua antwortete: „Doch, ein Gericht kommt über die Menschen. Aber es wird anders sein, als du dir das vorstellen kannst.“
„Und wie soll dieses Gericht aussehen?“
„Gott selbst kommt unter die Menschen. Lebt als Mensch unter ihnen.“
„Und dann?“
„Er stellt sich ganz und gar auf die Seite der Armen und Kleinen, auf die Seite der Verfolgten und Unterdrückten. Und er wird den Weg ganz zu Ende gehen. Wenn es sein muss, wird er als Mensch unter Menschen den Tod der Menschen sterben, hingerichtet von den Mächtigen, mitsterbend mit den Armen und Wehrlosen. Und dann werden alle erkennen, was sie da angerichtet haben: Sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben. – so steht es beim Propheten Sacharja. Das wird das Gericht sein: Das abgrundtiefe Erschrecken über die eigene Bosheit: Wir haben Gottes Sohn getötet. Keine Strafe von außen, kein Feuer und keine Wasserflut. Nur die Erkenntnis der eigenen Schuld – und das wird sie reinigen, mehr als Feuer und Wasser. Es wird ein Gericht der Liebe und des Erbarmens sein, und doch härter als alle äußeren Katastrophen. Und nach dem Schmerz der Reinigung wird die Welt anders sein: Gottes Reich wird kommen, das du verkündest, und das ich mit dir verkünde.“
„Aber dazu müsste Gott erst Mensch werden. Er müsste geboren werden, aufwachsen als Kind, auftreten als Prophet, sich an die Seite der Kleinsten stellen. Wann soll das …“ Johannes brach mitten im Satz ab. Wie vom Blitz getroffen schwieg er lange Zeit und sah Joschua in die Augen. „Bist du dieser Mensch?“
Joschua lächelte und sagte nichts. Worte waren gar nicht mehr nötig. Johannes hatte begriffen.
Kurz vor seinem Tod sagte Johannes über Jesus: „Er ist das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt.“
Und als Johannes gestorben war, treu seiner Botschaft und ermordet von den Mächtigen, sagte Joschua – sagte Jesus über ihn: „Unter den Menschen gab es keinen Größeren als Johannes den Täufer.“
erzählt von Peter Wünsche
Hirt und König, Groß und Klein, Kranke und Gesunde, Arme, Reiche lädt er ein, freut euch auf die Stunde, freut euch auf die Stunde. EG 18
Johannes
Johannes saß am Ufer. Vor ihm quälte sich müde der Fluss durch den Schlamm. Es war Oktober; die Hitze des Sommers hatte nachgelassen, aber der Regen des Winters stand noch aus. Der Fluss war nur noch ein trübes Rinnsaal, das nichts zu tun hatte mit der frischen Flut des Frühjahrs.
Johannes sah den herbstlichen Fluss als Gleichnis für sein Leben und dachte zurück. Da war ein froher Frühling gewesen. Johannes war der einzige Sohn seiner Eltern, die vom Alter her auch hätten seine Großeltern sein können. Da sie wussten, dass ihnen nicht viel Zeit blieb, gaben sie alles für ihren Sohn – gaben sie alles an Liebe, was sie geben konnten. Die Mutter Elisabeth konnte Johannes noch eine reiche Kindheit bereiten; sie starb, als Johannes gerade anfing, dem Kindesalter zu entwachsen. Der alte Vater Zacharias kümmerte sich von da an allein um seinen Sohn, und er machte das wirklich gut. Einen Monat im Jahr musste er als Priester Dienst im Tempel tun. Johannes durfte ihn dabei begleiten, seit die Mutter gestorben war – dreizehn Jahre war er damals alt. Er sollte eines Tages Priester werden wie sein Vater. Zum Priester wurde man als Sohn eines Priesters geboren im Volk Juda.
Der erste Besuch im Tempel war atemberaubend gewesen. König Herodes hatte das Haus Gottes prachtvoll erweitern lassen, ganz im Stil der großen Welt. Der Tempel stand in einer Reihe mit den großen Bauten der großen Nachbarvölker. Überall glänzte es von Marmor und Gold, ein schwerer Duft von Weihrauch hing über dem Gelände, die kunstvollen Gesänge der Leviten erklangen morgens und abends. Dutzende von Opfern wurden dargebracht im Lauf eines Tages. Johannes war überwältigt und hatte gespürt: Hier muss Gott ganz nahe sein.
Aber je älter Johannes wurde, desto mehr hatte sich seine Sicht des Tempels getrübt. Mit vierzehn Jahren erlebte er, wie ein blinder Bettler nicht in den Tempel gelassen wurde – er war aufgrund seiner Behinderung unrein und musste draußen bleiben wie ein Hund. Mit fünfzehn fing er an, die Machenschaften der Geldwechsler zu durchschauen: Die Tempelsteuer musste in einer alten Währung entrichtet werden, die im Alltag nicht mehr vorkam. Alle mussten ihr Geld wechseln – und den größten Nutzen hatten die Wechsler selbst. Mit sechzehn Jahren spürte er, dass es da einen großen Bruch gab: Die Priester und Lehrer am Tempel verkündeten Gottes Wort. Es gab unter ihnen viele wie seinen Vater, denen es ernst war. Aber da waren andere, die handelten ganz anders, als sie redeten. Eigentlich gab es keines unter den zehn Geboten, das von ihnen nicht gebrochen wurde. Das reichte tatsächlich bis zum Mord: Das begriff Johannes mit siebzehn Jahren. Denn die Hohenpriester zahlten für ihren Dienst einen hohen Preis. Der Tempel konnte nur aufrecht erhalten werden, wenn die obersten Vertreter der Priesterschaft mit den Römern zusammenarbeiteten. Echte oder auch nur vermeintliche Feinde der Römer mussten ausgeliefert werden, und die Römer kannten für solche Leute nur eine Strafe: den Tod am Kreuz. Johannes wusste, dass sein Vater sich von solchen Machenschaften fern hielt; er verriet nie einen Glaubensgenossen. Aber er konnte bei ihm nicht mehr lange Trost und Geborgenheit finden, denn als Johannes achtzehn Jahre alt geworden war, starb sein Vater Zacharias.
Johannes war nicht Priester geworden. Kurz bevor er zum ersten Mal Dienst tun sollte, tat er auch nach außen, was er innerlich längst vollzogen hatte: Er wanderte aus. Er zog sich ganz zurück. Aber es war nicht ein zielloser Rückzug, es war die Suche nach Gott. Im Tempel konnte er ihn nicht mehr finden. Dafür war der in den Augen des Johannes zu sehr beschmutzt. Johannes ging da hin, wo nach den uralten Erzählungen sein Volk zum ersten Mal Gott begegnet war: in die Wüste. Sieben Jahre hatte er als junger Mann in der Wüste gelebt, Heuschrecken, wilden Honig und andere Dinge gegessen, die nur mühsam zu gewinnen sind. Aber diese mühselige Sorge für sein Leben führte ihn an die Wurzel. Viel mehr als im Tempel fühlte er dort zwischen Schakalen und Geiern, zwischen unerträglicher Hitze und frostiger Kälte die Nähe Gottes. Er nahm sich Zeit für diese Erfahrung, er betete viel und horchte in den lautlosen Nächten auf die Stimme seines Herzens, ob sich ihm dort Gott mitteilte. Und Gott hatte geantwortet.
Johannes hatte den Entschluss gefasst, wieder unter die Menschen zu gehen. Aber er tat das nicht als wohlbestallter Priester. Er trat in ganz andere Fußstapfen: Er nahm die Worte der alten Propheten auf, wurde selbst ein Prophet. Und er war überzeugt, dass das sein Weg war. Johannes wurde deutlich: Ihr Schlangenbrut – das war eines seiner Lieblingsworte, die er den Priestern und Schriftgelehrten entgegen warf. Gott wird kommen, er wird Gericht halten; im Feuer wird eure falsche Welt verbrennen – und ihr Heuchler mit ihr zusammen.
Seine Reden hatten erst einmal Eindruck gemacht. Seine Worte waren nicht nur auf taube Ohren gestoßen. Viele waren gekommen, hatten mehr von ihm hören wollen. Und er hatte diese schöne Idee mit der Taufe gehabt – oder besser: Gott hatte sie ihm eingegeben. Um dem Feuer des Gerichts zu entgehen, ließ er die Leute im Fluss untertauchen, ließ sie als sündhafte Menschen symbolisch sterben, damit sie als neue, gereinigte Menschen wieder aus dem Wasser hervorkamen. Viele vollzogen die Taufe mit großem Ernst. Aber ebenso viele waren gekommen, hatte sich taufen lassen, waren zurückgegangen und hatten genauso weiter betrogen, gelogen und manchmal auch gemordet wie vorher. Je schärfer seine Worte wurden, desto erfolgloser schienen sie ihm. Und manche waren nur an den Fluss gekommen, um etwas Aufregendes zu sehen: einen Propheten, dessen Stimme den Mächtigen entgegendonnerte – eine Abwechslung, eine Sensation, mehr nicht. Das alles waren die Sommergewitter seines Lebens gewesen.
Und nun schien es ihm Herbst geworden zu sein im Leben des Johannes, obwohl er erst wenige Jahre über die dreißig war. Das Interesse der Leute hatte nachgelassen, sie suchten sich neue Neuigkeiten. Er wusste, dass die Mächtigen nach ihm fahndeten, denn er hatte sie scharf angegriffen. Er war seines Lebens nicht mehr sicher. Seine Energie war verbraucht – aber wirklich geändert hatte er nichts. Das trübe Rinnsal zu seinen Füßen war ein Bild seines Lebens. Bald könnte es ganz versiegen.
***
„Warum bist du so traurig?“
Johannes hörte hinter sich eine Stimme, die er kannte. Er musste sich gar nicht umdrehen, um zu wissen: Joschua war gekommen, die Griechen nannten ihn Jesus. Joschua war ein entfernter Vetter von ihm, aber viel näher als die lose Blutsverwandtschaft verband sie ein gemeinsamer Geist. Johannes war froh, dass gerade Joschua auftauchte. Die Nähe eines anderen Menschen hätte er jetzt nicht ausgehalten.
„Ich denke nach“, sagte Johannes. „Ich denke nach, ob das schon alles war. Manchmal fühle ich mich wie eine Lampe, die das Leben der Menschen durchleuchtet. Aber die Leute haben nur ein wenig am Licht gespielt. Und jetzt ist die Lampe am Verlöschen. Ich hatte gedacht, Gott greift ein, greift endlich ein mit seinem Gerichtsfeuer. Aber nichts ist geschehen. Ich habe die Menschen gewarnt, aber jetzt lachen sie über mich. Sie haben sich nicht geändert – außer einigen wenigen. Aber Gott lässt mich jetzt sitzen mit meiner Botschaft vom Gericht, vom Gericht, das nicht kommt.“
„Johannes, du hast getan, was du konntest“. So versuchte Joschua ihn zu trösten. „Du hattest deinen Ruf als Prophet, und du hast ihn bestens erfüllt.“
„Aber erfolglos.“
„Erfolg ist nicht der Name Gottes. Das ist das eine. Ein zweites kommt dazu: Du hast Recht mit deiner Meinung über die Menschen. Da ist viel Böses. Und da kommt ein drittes hinzu: Die Menschen brauchen Mahnungen und Warnungen, sie brauchen jemand, der sie immer wieder an Gottes Weisung erinnert, der ihnen immer wieder ihr Unrecht vorhält. Das hast du getan mit aller Kraft. Aber da ist ein viertes: Allein damit lassen die Menschen sich nicht verändern. Sie sind so tief in Schuld verstrickt, dass sie sich gar nicht selbst daraus befreien können.“
„Also lässt Gott den Menschen alles durchgehen? Kein Gericht? Ewiges Recht für die Verbrecher?“
Und Joschua antwortete: „Doch, ein Gericht kommt über die Menschen. Aber es wird anders sein, als du dir das vorstellen kannst.“
„Und wie soll dieses Gericht aussehen?“
„Gott selbst kommt unter die Menschen. Lebt als Mensch unter ihnen.“
„Und dann?“
„Er stellt sich ganz und gar auf die Seite der Armen und Kleinen, auf die Seite der Verfolgten und Unterdrückten. Und er wird den Weg ganz zu Ende gehen. Wenn es sein muss, wird er als Mensch unter Menschen den Tod der Menschen sterben, hingerichtet von den Mächtigen, mitsterbend mit den Armen und Wehrlosen. Und dann werden alle erkennen, was sie da angerichtet haben: Sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben. – so steht es beim Propheten Sacharja. Das wird das Gericht sein: Das abgrundtiefe Erschrecken über die eigene Bosheit: Wir haben Gottes Sohn getötet. Keine Strafe von außen, kein Feuer und keine Wasserflut. Nur die Erkenntnis der eigenen Schuld – und das wird sie reinigen, mehr als Feuer und Wasser. Es wird ein Gericht der Liebe und des Erbarmens sein, und doch härter als alle äußeren Katastrophen. Und nach dem Schmerz der Reinigung wird die Welt anders sein: Gottes Reich wird kommen, das du verkündest, und das ich mit dir verkünde.“
„Aber dazu müsste Gott erst Mensch werden. Er müsste geboren werden, aufwachsen als Kind, auftreten als Prophet, sich an die Seite der Kleinsten stellen. Wann soll das …“ Johannes brach mitten im Satz ab. Wie vom Blitz getroffen schwieg er lange Zeit und sah Joschua in die Augen. „Bist du dieser Mensch?“
Joschua lächelte und sagte nichts. Worte waren gar nicht mehr nötig. Johannes hatte begriffen.
Kurz vor seinem Tod sagte Johannes über Jesus: „Er ist das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt.“
Und als Johannes gestorben war, treu seiner Botschaft und ermordet von den Mächtigen, sagte Joschua – sagte Jesus über ihn: „Unter den Menschen gab es keinen Größeren als Johannes den Täufer.“
erzählt von Peter Wünsche
Zieh, Ehrenkönig, bei mir ein, komm, komm, verweile nicht. Komm, lass mich ganz dein eigen sein, komm, o mein Gandenlicht, komm, o mein Gnadenlicht.
Komm, Jesu, meiner Seele teil, ach komm, ich liebe dich. Ja, komm, Herr Jesu, komm, mien Heil, mach ewig selig mich, mach ewig selig mich. EG 537
Der Engel, der nicht in Bethlehem singen wollte
Komm, Jesu, meiner Seele teil, ach komm, ich liebe dich. Ja, komm, Herr Jesu, komm, mien Heil, mach ewig selig mich, mach ewig selig mich. EG 537
Der Engel, der nicht in Bethlehem singen wollte
Und es geschah in jener Zeit, dass der Allmächtige die Scharen des Himmels vor sein Angesicht rief. Alle Fürsten und Mächte und Gewalten, Cherubim und Seraphim, Erzengel und Engel versammelten sich im himmlischen Thronsaal. Und Gott, der Herr, sprach zu ihnen:
„Heute Nacht wird es geschehen. Das Kind wird geboren. Es wird groß sein und Sohn des Höchsten heißen. Ich werde ihm den Thron seines Vaters David geben und er wird in Ewigkeit herrschen. Geht nach Bethlehem. Verkündet seine Geburt den Hirten dort und den Frieden auf Erden den Menschen.“
Und es erhob sich ein gewaltiges Rauschen wie von Flügeln. Der himmlische Thronsaal leerte sich; leerte sich … bis auf einen kleinen Engel, der zurückblieb. Sein Name war Lena. Er – oder sie – stand nun allein vor Gott.
„Was ist mit dir? Willst du nicht mit nach Bethlehem?“, fragte der Höchste. Und obwohl er alles weiß, klang seine Stimme doch verwundert.
„Herr, ich habe da noch eine Frage“, sagte Lena.
Sie mochte es, manchmal den Menschen als Kind, als Mädchen zu erscheinen, kluge, unschuldige und dennoch bohrende Fragen zu stellen und sie so zum Nachdenken zu bringen. Sie liebte diese Rolle, manchmal sogar beim Reden mit Gott. Der schaute sie gütig an und sagte:
„Dann sprich; hab’ nur Mut und sag’ was du denkst.“
„Herr, ich weiß, dass deine Entscheidungen immer richtig sind und seit Ewigkeiten feststehen. Aber – ich verstehe das nicht!“
„Was verstehst du nicht?“
„Warum muss es immer ein Junge sein, der als Retter geboren wird. Immer retten die Männer dein Volk und tragen den Ruhm davon! Abraham, Isaak, Jakob, Josef, Mose, Josua, Samuel, David … alles Männer! Bei uns Engeln macht das ja keinen Unterschied, wir erscheinen den Menschen in jeder Gestalt, als Frau oder Mann, Junge oder Mädchen, wie es gerade passt. Aber bei den Menschen – da haben die Männer den Ruhm, und die Frauen werden vergessen. Wenn ein Junge geboren wird, jubeln alle; bei einem Mädchen sagen sie bestenfalls: Ja schön.“
„Bist du nicht ein wenig ungerecht? In meinem Volk hat es doch auch große Frauen gegeben!“
„Ja ich weiß, Ruth und Judith und Esther zum Beispiel. Aber wer kennt die schon?“
„Immerhin haben sie ihre eigenen Bücher in der Heiligen Schrift!“
„Aber das sind doch die allerkleinsten Bücher in der ganzen Bibel. Könntest du nicht ein Mädchen als Retterin und deine Tochter in die Welt schicken – als ausgleichende Gerechtigkeit?“
„Ja, ich könnte. Ich habe das auch erwogen. Ich habe Mann und Frau als mein Ebenbild erschaffen. Aber ich muss auch an die Menschen denken, so, wie sie eben fühlen. Der Retter muss jetzt kommen. Leider sind die Menschen noch nicht bereit für eine Retterin. Das könnte in ein paar tausend Jahren anders sein. Aber jetzt würden sie auf eine Frau nicht hören. Daher muss es so sein.“
„Herr, ein paar tausend Jahre noch, bis die Menschen erkennen, dass Mann und Frau gleich wichtig sind vor dir und der Welt – ist das nicht sehr lang?“
„Willst du etwas tun, diese Zeit zu verkürzen?“
„Herr … ich … – wie soll das gehen?“
„Ich habe einen Auftrag für dich. Einen ganz besonderen Auftrag. Heute Nacht wird noch ein Kind geboren. Es wird Mirjam heißen. Ich brauche einen guten Schutzengel für sie. Wärst du bereit, den Dienst zu übernehmen?“
„Ich bin bereit!“
„Wirst du auch diesen Dienst tun, wenn er schwer wird – schwerer als bei den meisten anderen Menschen?“
„Traust du mir das zu?“
„Ja, deshalb frage ich ja gerade dich. Mirjam wird ohne Eltern aufwachsen. Nicht einmal ihre Mutter weiß genau, wer der Vater ist. Und die Mutter selbst wird bald nach der Geburt sterben. Mirjam wird von jung an auf sich selbst gestellt sein. Sie wird kaum Freunde haben, und die wenigen, die ihr nahe stehen, werden glauben, dass sie verrückt und gar besessen ist. Sie wird mit bösen Menschen zusammenkommen, und viele werden sie selbst für schlecht und eine Sünderin halten. Bist du immer noch bereit?“
„Ich werde mich bemühen, so gut ich kann.“
„Und dann wird für Mirjam eine Prüfung kommen, der nur wenige standhalten. Sie muss etwas tun, was nur wenigen Menschen gelingt: stärker sein als ein unsäglicher Schmerz, eine Liebe zu haben, die stärker ist als der Tod. Willst du immer noch für sie da sein?“
„Du weißt, dass ich will – obwohl ich Angst davor habe, selbst als Engel.“
„Dann soll es sein. Gerade wird das Kind Mirjam geboren. Sei ihr Schutzengel!“
Und so geschah es. Über dem Hirtenfeld von Bethlehem schwebten Gottes Scharen – alle bis auf einen kleinen Engel. Der stand in einer schmutzigen, windschiefen Hütte, einige Tagereisen entfernt, unsichtbar neben einem neugeborenen Mädchen. Da für Engel menschliche Entfernungen keine Rolle spielen, konnte Lena die anderen singen hören: Ehre sei Gott in der Höhe! Lena sang ganz leise mit. Und auf Erden Friede den Menschen.
„Ja, Friede sei auch mit dir, Mirjam“, sagte der Engel zu dem neugeborenen Mädchen. Auf dessen Augen lag ein Anflug von Lächeln und machte die schäbige Umgebung ein wenig heller.
*****
Drei Jahrzehnte und einige Jahre mehr zogen ins Land. Der Schutzengeldienst wurde für Lena noch schwerer, als sie sich das erwartet hatte. Sie ging mit Mirjam durch große Dunkelheit, sie freute sich mit ihr über einige wenige Stunden höchsten Glücks. Lena sorgte dafür, dass sich Mirjams Schritte mit der des Retters kreuzten. Mirjam schloss sich den Frauen an, die den Retter begleiteten. Sie wurde seine Jüngerin.
Und es kam die Stunde, über die Gott mit dem Engel im Voraus gesprochen hatte. Es war die Stunde, die die Welt verdunkelte. Es war die Stunde, da Gottes Sohn sich für einen Augenblick selbst von Gott verlassen fühlte. Seine Freunde waren schon vorher weggelaufen. Aber Mirjam stand unter dem Kreuz. Sie brach beinahe zusammen; sie wäre fast davongegangen wie die anderen. Ihr Schutzengel Lena stütze sie unsichtbar. Und Mirjam hielt aus.
Als alles vorüber und der Leib des Retters begraben war, wurde Lena zum Höchsten gerufen. Sie durfte ganz allein zu ihm, wurde empfangen wie sonst nur Gabriel, der höchste der Erzengel. Gott sah sie an, und es war unendlich viel Güte in seinem Blick und höchstes Lob. Und er gab ihr einen neuen Auftrag, den im Voraus niemand außer ihr erfahren durfte.
Lena ging auf die Erde zurück. Am Morgen des ersten Tages der Woche lenkte sie die Schritte Mirjams zum Grab. Und als Mirjam das Grab betrat, ganz verwundert, dass es offen war und leer, da zeigte sich Lena, der Engel, dem Menschen Mirjam: diesmal als große Lichtgestalt. Und der Engel richtete die Botschaft aus:
„Du suchst Jesus, den Gekreuzigten. Er ist nicht hier, er ist auferstanden. Sieh die Stelle, wo er lag. Dann geh zu seinen Jüngern und sag: Er ist auferstanden. Er geht euch voraus nach Galiläa, dort werdet ihr ihn sehen.“
So erfüllte der Engel seinen Auftrag: Die größte Botschaft, die je ein Engel zu einem Menschen gesprochen hat, Mirjam hörte sie.
*****
So könnte es gewesen sein. Vielleicht war es auch ganz anders. Wir Menschen wissen nicht viel über die Welt der Engel.
Aber sicher ist: Mirjam, die tapfere junge Frau, wurde zur ersten Zeugin der Auferstehung, zur ersten Christin, zur Apostolin der Apostel. Und die Menschen lernen allmählich, dass Gott alle als sein Abbild geschaffen hat: als Mann und als Frau.
Ach ja: Das Geburtshaus Mirjams stand in der Stadt Magdala. Und die Heutigen kennen Mirjam meist unter ihrem griechischen Namen: Maria Magdalena.
erzählt von Peter Wünsche
1. Die Nacht ist vorgedrungen, / der Tag ist nicht mehr fern! / So sei nun Lob gesungen / dem hellen Morgenstern! / Auch wer zur Nacht geweinet, / der stimme froh mit ein. / Der Morgenstern bescheinet / auch deine Angst und Pein.
2. Dem alle Engel dienen, / wird nun ein Kind und Knecht. / Gott selber ist erschienen / zur Sühne für sein Recht. / Wer schuldig ist auf Erden, / verhüll nicht mehr sein Haupt. / Er soll errettet werden, / wenn er dem Kinde glaubt.
3. Die Nacht ist schon im Schwinden, / macht euch zum Stalle auf! / Ihr sollt das Heil dort finden, / das aller Zeiten Lauf / von Anfang an verkündet, / seit eure Schuld geschah. / Nun hat sich euch verbündet, / den Gott selbst ausersah.
4. Noch manche Nacht wird fallen / auf Menschenleid und -schuld. / Doch wandert nun mit allen / der Stern der Gotteshuld. / Beglänzt von seinem Lichte, / hält euch kein Dunkel mehr, / von Gottes Angesichte / kam euch die Rettung her.
5. Gott will im Dunkel wohnen / und hat es doch erhellt. / Als wollte er belohnen, / so richtet er die Welt. / Der sich den Erdkreis baute, / der läßt den Sünder nicht. / Wer hier dem Sohn vertraute, / kommt dort aus dem Gericht. EG 16
Glocken
Glocken
Im Nordostturm des neuen Bamberger Doms, in dem Turm, welcher der Stadt am nächsten liegt, hängen Heinrich und Kunigunde, zwei neue, große, schwere Glocken.
Die Menschen schreiben das Jahr 1237. Der Bamberger Dom, nach einem Brand wiedererrichtet, größer und schöner als zuvor, soll geweiht werden. Bischöfe und Äbte, Domherren und Fürsten sind angereist, wollen dabei sein bei der heiligen Handlung. Heinrich und Kunigunde, die beiden großen Glocken, rufen zur Feier der Weiheliturgie. Und sie tun das auf eine Weise, die allen Anwesenden einen heiligen Schauer einjagt. So große Glocken, solch eindrückliche Klänge hat bisher kaum jemand gehört. Die Glockengießerkunst steht erst am Anfang, der Ton der Glocken wirkt noch etwas rau und wild – aber alle sind beeindruckt von dem Klang: Gott ist groß – kommt, betet an. Der tiefe Glockenton erreicht auch die Tiefe der Seelen.
So nehmen Heinrich und Kunigunde ihren Dienst auf. Für den Alltag haben sie kleinere Geschwister in den anderen Türmen, aber an den großen Festen läutet Heinrich oder Kunigunde zur Messe und zur Vesper, und an den ganz großen Festen, Ostern und Weihnachten, da dürfen sie zusammen läuten.
Das bedeutet einigen Aufwand. Die Heinrichsglocke wiegt etwa so viel wie 60 erwachsene Menschen; acht Männer sind nötig, um sie zu läuten. Kunigunde bringt es immerhin noch auf 40 Menschengewichte und braucht sechs starke Männer, um sie in Bewegung zu versetzen.
So läuten die beiden großen Glocken Jahr für Jahr und Fest für Fest. So verkünden sie: „Der Heiland ist geboren“ und „Christ ist erstanden“. Die Domherren und das ganze Volk freuen sich über ihre großartigen Glocken; jeder Ton lässt auch ihre Herzen mitschwingen.
Und dann haben die Glocken auch noch eine andere Aufgabe: Die Menschen im Mittelalter sind davon überzeugt, dass Glockenklang Schaden abwenden kann. Besonders bei Sturm und Gewitter werden sie geläutet zum Schutz der Kirche und der Stadt.
62 Jahre vergehen. Das Jahr 1299 ist ein sehr unruhiges. Erst haben die Winterstürme nicht weichen wollen, und als es April geworden ist, setzt eine wochenlange Folge von heftigen Gewittern ein. Vereinzelte Häuser am Rand der Stadt sind schon vom Blitzschlag getroffen; zum Glück konnten die Bürger die entstehenden Feuer schnell wieder löschen. Aber dann kommt dieser Tag im Juni.
Eine schwarze Gewitterwand zieht von Osten auf die Stadt zu – und Ostgewitter gelten als besonders heftig. Die Befürchtungen werden wahr, fast im Takt eines Herzschlags sind die Blitze zu sehen und die Donner zu hören. Man kennt keinen anderen Schutz als die Glocken. Mit aller Kraft der Verzweiflung ziehen die Glöckner an den Seilen, lassen die Glocken viel weiter ausschwingen als sonst. Der Glockenklang wird zum Getöse und kämpft gegen die Donner an. Ein Blitz trifft die bronzene Christusstatue auf dem Domplatz und beschädigt sie. Die Glöckner stecken noch mehr Kraft in ihr Läuten. Und dann – ein kräftiges Donnern im Nordostturm. Alle sind überzeugt: Jetzt hat der Blitz in den Turm eingeschlagen.
Aber es war nicht der Blitz. Das übermäßige Läuten hat die Heinrichsglocke von ihrem Joch abgerissen. Mit einem dumpfen Knall ist sie heruntergefallen. Jetzt liegt sie am Boden der Glockenstube, den sie halb durchschlagen hat. Und ein Stück Bronze ist aus ihrer Wandung herausgebrochen, ein Stück Bronze, so groß wie ein Messbuch. Der Schaden ist groß, viel zu groß, um ihn wieder heil zu machen. Jahrelang muss Kunigunde nun allein den Festtagsdienst tun. Heinrich liegt zerstört unter ihr. Das tut weh.
Einige Jahre später hört Propst Johann, der Vorsteher des Domkapitels, von Meister Wolfgang, dem Glockengießer, der herrliche neue Glocken schaffen kann. Er lädt ihn ein an den Dom. Meister Wolfgang schaut sich die zerstörte Glocke an, setzt sich hin und rechnet nach. Und während Kunigunde weiter treu ihren Dienst tut, wird die Heinrichsglocke aus der Glockenstube geborgen und auf den Domplatz gebracht. Eine tiefe Grube wird dort ausgehoben, und Meister Wolfgang verbringt viele Tage in der Grube, arbeitet geheimnisvoll vor sich hin. Neben der Grube wird ein Schmelzofen mit einem riesigen Eisenbottich errichtet. Eine schier endlose Karawane von Fuhrwerken bringt Unmengen von Holz zum Domplatz.
Und dann kommt der entscheidende Tag. Ein gewaltiges Feuer brennt unter dem Eisenbottich. Und für die alte Heinrichsglocke kommt das Ende. Was von ihr noch übrig ist, wird in Teile zersägt, und diese werden im Bottich eingeschmolzen. Hätte Kunigunde eine Seele – und manche glauben, dass Glocken so etwas haben – dann wäre ihr Schmerz unerträglich gewesen beim Anblick von dem, was da auf dem Domplatz geschieht: Heinrich löst sich auf, nur ein Kessel voll rotglühender Bronze bleibt übrig.
Dann ist es so weit: Der Bottich wird geschwenkt. Funken sprühen. Ein gleißender Strom von flüssigem Metall ergießt sich in die Grube, in der Meister Wolfgang aus Wachs und Ton die Gussform errichtet hat. Und dann heißt es warten – mehrere Wochen lang, bis die Schmelze erstarrt ist.
Als es so weit ist, steigt Meister Wolfgang wieder in die Grube. Mit einem Hammer zerschlägt er vorsichtig die Form aus Ton; mit einem Flaschenzug und dem Einsatz von acht Ochsen wird eine neue Glocke aus der Grube gezogen. Es gelingt nicht immer, aber diesmal ist der Glockenguss wirklich geglückt. Eine neue Glocke ist entstanden aus der zersprungenen alten, eine große Glocke, etwa so hoch wie Mensch. Mit großem Aufwand wird sie nach oben gezogen, in den Glockenstuhl eingefügt. Ein Schmied macht ihr noch einen passenden Klöppel aus Eisen, den Meister Wolfgang mit einem Lederriemen in die Glocke einbindet. Da hängt sie, die neue Heinrichsglocke, wiedergeboren aus dem Feuer, auferstanden aus Bruchstücken und Scherben.
Man schreibt das Jahr 1311. Es ist der der 6. Mai, der Weihetag des Doms. Die neue Heinrichsglocke darf zum ersten Mal läuten. Und schon die ersten Schläge der neuen Glocke lassen auch die Herzen der Hörer höher schlagen. Einen solchen Klang hat noch niemand gehört. Es ist ein fester, tief gegründeter Klang, es sind Töne, so rein wie noch bei keiner Glocke vorher, ein perfekter Molldreiklang, wie man ihn sich von einer idealen Glocke nur wünschen kann.
Und als sie zusammen läuten, die alte Kunigundenglocke von 1237 und die neue Heinrichsglocke von 1311, dann ist es, wie wenn tausend Engel ihre Flügel rauschen lassen, dann ist es, als ob der Himmel ein Stück aufgeht, dann wird etwas von der Größe Gottes spürbar, aber auch von seinem unergründlichen Geheimnis.
Im Nordostturm des neuen Bamberger Doms, in dem Turm, welcher der Stadt am nächsten liegt, hängen noch heute Heinrich und Kunigunde, zwei große, schwere Glocken. Kunigunde ist die ältere, ihr Klang ist rau und wild, man hört ihr das Alter von 800 Jahren an. Heinrich ist inzwischen auch sehr alt, über 700 Jahre, aber doch 80 Jahre jünger als Kunigunde. Und sie gehört zu den besten Glocken, die aus dem Mittelalter übrig sind, manche sagen: Sie ist die klangschönste Mittelalterglocke weltweit; und sie stellt die Glocken, die man in späteren Zeiten geldsparend viel leichter baut, weit in den Schatten.
Der Ton von Heinrich und Kunigunde ist auch heute noch in der ganzen Stadt zu hören. Vor allem in der Nacht, wenn es sonst still ist, hüllen sie die Stadt mit ihrem Klang ein. Sie läuten in den heiligen Nächten. Und nach wie vor ist es ihre vornehmste Aufgabe, in der Osternacht zu verkünden: Christ ist erstanden und in der Christnacht Der Heiland ist geboren.
erzählt von Peter Wünsche
erzählt von Peter Wünsche
1. "Tröstet, tröstet", spricht der Herr, / "mein Volk, daß es nicht zage mehr." / Der Sünde Last, des Todes Fron / nimmt von euch Christus, Gottes Sohn.
2. Freundlich, freundlich rede du / und sprich dem müden Volke zu: / »Die Qual ist um, der Knecht ist frei, / all Missetat vergeben sei.«
3. Ebnet, ebnet Gott die Bahn, / bei Tal und Hügel fanget an. / Die Stimme ruft: »Tut Buße gleich, / denn nah ist euch das Himmelreich.«
4. Sehet, sehet, alle Welt / die Herrlichkeit des Herrn erhellt. / Die Zeit ist hier, es schlägt die Stund, / geredet hat es Gottes Mund.
5. Alles, alles Fleisch ist Gras, / die Blüte sein wird bleich und blaß. / Das Gras verdorrt, das Fleisch verblich, / doch Gottes Wort bleibt ewiglich.
6. Hebe deine Stimme, sprich / mit Macht, daß niemand fürchte sich. / Es kommt der Herr, eu'r Gott ist da / und herrscht gewaltig fern und nah. EG 15
Giftiger Hahnenfuß
Giftiger Hahnenfuß
Wenn man „Legende“ hört, setzt man gern das Wort „alt“ davor. Es gibt viele alte Legenden. Aber nicht alle Legenden sind alt. Und jede alte Legende war einmal neu. Warum also nicht einmal eine neue Legende hören? Diese ist so neu, dass sie nur wenige schon gehört haben.
Am Rand der Stadt stand ein alter Stall. Er war nicht besonders groß, er war nicht besonders schön, er bot eher schlecht als recht ein wenig Schutz vor Wind und Regen und Kälte. Seine Dauerbewohner waren ein Ochse und ein Esel, und wenn das Wetter ganz schlecht war, kamen noch ein paar Schafe dazu.
Menschen kamen selten in den Stall, sie kamen meist nur, um die Tiere zu füttern oder den Ochsen für die Feldarbeit oder den Esel für den Tragdienst zum Markt abzuholen.
Um den Stall herum standen einige Pflanzen, wie man sie fast überall findet, Alltagspflanzen: Kräuter und Unkräuter und Sträucher und ein paar Bäume. Sie redeten miteinander in der Sprache der Pflanzen, die für Menschen fast unhörbar ist, sie nehmen nur ein leises Rascheln wahr. Die Pflanzen beobachteten, was um sie herum vorging und unterhielten sich darüber. Denn selbst handeln, das können die Pflanzen kaum. Ihre Wurzeln halten sie fest.
Und dann kam diese seltsame Nacht. Ein Mann und eine Frau suchten im Stall Zuflucht vor der Kälte, und kurz darauf hörte man den Geburtsschrei eines kleinen Kindes. Er drang bis zu den Pflanzen nach außen. Dann sahen die Bäume und Kräuter ein Licht in der Ferne, fast so hell wie die Sonne. Und eine Stunde später füllte sich der Stall mit Menschen, Hirten und Hirtinnen wollten das neugeborene Kind sehen, und sie waren ganz ergriffen und sangen vor Freude und verehrten es als ganz besonderes Kind, als Heiland und Retter. Die Stalltür stand halb offen, weil es so viele Leute waren, und so hörten die Pflanzen draußen mit, was da gesprochen und gesungen wurde.
Als die Hirten wieder gegangen waren, sagte die uralte weise Eiche, die vor dem Stall stand: „Ich glaube, dass das eine besondere Nacht ist, eine heilige Nacht. So viel ich verstanden habe, soll das Kind der Retter seines Volkes und der Retter der Welt sein. Ich bin froh, dass ich das erleben durfte. Jetzt hat sich meine Zeit erfüllt, ich kann in Frieden sterben.“
An der Seite des Stalles stand der unscheinbare, giftige Hahnenfuß. Dem wollte das gar nicht gefallen: „He, Eiche“, sagte er, „nicht so eilig mit dem Sterben; erst müssen wir diese Geburt doch feiern – am besten mit einem Blütenfest.“
„Im Winter blühen – wo gibt’s denn so was? Das war noch nie so“, sagte der Fliederbusch.
„Alles geschieht irgendwann einmal zum ersten Mal!“ Aber der Hahnenfuß kam damit nicht gegen den Flieder an.
„Was willst du denn?“, gab der Rosenstock zurück. „Du mickriges Giftgewächs willst feiern? Mit dir feiere ich ganz gewiss nicht, du Giftzwerg. Da bin ich mir zu schade.“
Der Hahnenfuß schwieg.
Die Herbstzeitlose sagte: „Ich habe gerade erst geblüht. Ich kann nicht schon wieder. Dazu bin ich zu schwach.“
„Versuch es doch“, sagte der Hahnenfuß. Aber er bekam keine Antwort mehr.
Der Apfelbaum sagte: „Ich würde ja gern, aber ich habe Angst. Wenn ich jetzt im Winter blühen würde, dann brächte ich dieses Jahr keine Äpfel. Die Blüten würden vielleicht erfrieren, und jetzt im Winter gibt es keine Insekten, die sie bestäuben. Ich kann nicht mitfeiern.“
Die Palme meinte: „Mir ist es hier sowieso zu kalt. Jeden Winter fürchte ich, dass ich an Kälte sterbe. Und da soll ich jetzt auch noch blühen – nein, beim besten Willen, das ist mir zu gefährlich.“
Und der Hahnenfuß sagte zum Apfelbaum und zur Palme: „Habt doch keine Angst. Heute geschieht Wunderbares – da wird euch schon nichts passieren!“ Aber die beiden Bäume schwiegen.
Der Feigenbaum wollte auch nicht mitfeiern: „Retter, ach was, wieder nur so eine unnötige Aufregung. Ein Kind ist wie das andere. Wo kämen wir hin, wenn wir wegen jeder Geburt so einen Aufstand machten?“
Der Hahnenfuß war traurig, dass sich keiner auf seinen Einfall einließ.
Die Tanne hinter dem Stall sagte: „Schade, ich hätte gern gefeiert. Aber was nützt das? Meine Blüten sind so klein und unauffällig, das merkt ja doch niemand, wenn ich blühe. Ich kann nur eines tun. Ich lege meine Äste ganz dicht an den Stall, das schützt vor dem Wind, und drinnen ist es ein bisschen wärmer.“
„Wenigstens eine, die tut, was sie kann“, dachte der Hahnenfuß und sagte zur Tanne: „Gute Idee, ich danke dir“!
Und so entschuldigten sich alle Pflanzen, eine nach der anderen. Die einen hatten gute Gründe, die anderen erfanden Gründe, weil sie einfach keine Lust hatten, und einige machten sich über den kleinen giftigen Hahnenfuß lustig und seinen Einfall, mitten im Winter zu blühen: „So eine Dummheit!“
Der Hahnenfuß war fast am Aufgeben. Irgendwie waren die Pflanzen doch wie viele Menschen: Mutlos, ängstlich, träge, schwer zu begeistern. Aber dann beschloss er: „Ich feiere eben allein. So eine Nacht darf nicht einfach vorbeigehen.“ Er nahm all seine Kraft zusammen, und bis zum Morgen hatte er es tatsächlich geschafft, eine einzelne Blüte zu treiben. Mit dem Sonnenaufgang öffnete sich die Knospe. Es war eine unscheinbare Blüte, mehr braun als gelb, nicht besonders groß und ohne starken Duft. Aber es war eine Blüte an dem kalten, grauen Wintertag.
Als die schwache Wintersonne gegen Mittag ein bisschen Wärme brachte, trat die Frau, die in der Nacht geboren hatte, vorsichtig vor die Tür, gestützt von ihrem Mann und das Kind auf dem Arm. Sie sah um sich. Und ihr Blick traf die Blume – es war die einzige Blüte weit und breit.
„Na, du Kleiner“, sprach sie zu dem giftigen Hahnenfuß, „du bist ja mutig, dass du jetzt blühst. Aber ich freue mich an deiner Blüte. Du bist tapfer, du gibst alles, was du kannst.“
Und das Kind streckte seine Hand aus und zeigte auf den giftigen Hahnenfuß. Eine wunderbare Wärme durchzog ihn. Und er spürte, dass er sich verwandelte. Seine Blüte wurde größer und strahlend weiß wie Schnee. Die neuen goldenen Staubgefäße passten prächtig dazu. Und die Kälte machte ihm gar nichts mehr aus.
Die Frau sagte zu ihm: „Danke, dass du ein Hoffnungszeichen mitten im kalten Winter geworden bist. Die Menschen solle durch dich an die Worte des Propheten Jesaja erinnert werden: ‚Aus der Wurzel des Stammvaters Jesse soll ein Reis wachsen und blühen und Frucht tragen.‘ Sei nicht traurig, dass du giftig bist. Giftig musst du bleiben, damit du Schutz hast. Aber deine wunderschönen neuen schneeweißen Blüten kannst du jetzt in jedem Winter treiben – als immerwährende Erinnerung. Du wirst für immer mit der Geburt des Retters verbunden sein und seinen Namen tragen.“
Und seither blüht das kleine Hahnenfußgewächs jeden Winter um die Weihnachtszeit. Die Menschen lieben die Blume trotz ihres Gifts – sie müssen sie ja nicht essen. Und der kleine giftige Hahnenfuß trägt seither den Namen des Retters: Christrose.
erzählt von Peter Wünsche
1. Dein König kommt in niedern Hüllen, / ihn trägt der lastbarn Es'lin Füllen, / empfang ihn froh, Jerusalem! / Trag ihm entgegen Friedenspalmen, / bestreu den Pfad mit grünen Halmen; / so ist's dem Herren angenehm.
2. O mächt'ger Herrscher ohne Heere, / gewalt'ger Kämpfer ohne Speere, / o Friedefürst von großer Macht! / Es wollen dir der Erde Herren / den Weg zu deinem Throne sperren, / doch du gewinnst ihn ohne Schlacht.
3. Dein Reich ist nicht von dieser Erden, / doch aller Erde Reiche werden / dem, das du gründest, untertan. / Bewaffnet mit des Glaubens Worten / zieht deine Schar nach allen Orten / der Welt hinaus und macht dir Bahn.
4. Und wo du kommst herangezogen, / da ebnen sich des Meeres Wogen, / es schweigt der Sturm, von dir bedroht. / Du kommst, daß auf empörter Erde / der neue Bund gestiftet werde, / und schlägst in Fessel Sünd und Tod.
5. O Herr von großer Huld und Treue, / o komme du auch jetzt aufs neue / zu uns, die wir sind schwer verstört. / Not ist es, daß du selbst hienieden / kommst, zu erneuen deinen Frieden, / dagegen sich die Welt empört.
6. O laß dein Licht auf Erden siegen, / die Macht der Finsternis erliegen / und lösch der Zwietracht Glimmen aus, / daß wir, die Völker und die Thronen, / vereint als Brüder wieder wohnen / in deines großen Vaters Haus. EG 14
Verschwunden
Verschwunden
Es war Freitag, der 21. Dezember, nachmittags um vier. Mesner Franz Müller sperrte seine Sakristei auf. Er liebte es, immer ein bisschen früher da zu sein. Er liebte seine Kirche Sankt Mauritius, gerade wenn es noch still in ihr war. Mesner Franz tat seinen Dienst schon über 50 Jahre lang. Es war nicht sein Hauptberuf, er hatte das Mesneramt immer nebenamtlich ausgeübt. So furchtbar viel war nicht zu tun in der Pfarrei mit 1500 Menschen in einem Marktflecken irgendwo in Süddeutschland. Jetzt war er ein Rentner, immer noch rüstig und frisch genug für wöchentlich acht Stunden Dienst in der Sakristei.
Eine Viertelstunde später trafen die ersten Kinder ein, dazu auch Frau Maier, die sich seit einigen Jahren um die Kindergottesdienste kümmerte. Die Kinder, das waren zum Krippenspiel immer die Dritt- und Viertklässer, die am Heiligen Abend den Kleineren das Geschehen um die Geburt Jesu vor Augen stellten. Um halb fünf sollte die Generalprobe für das Spiel beginnen. Die Kinder waren alle gut aufgelegt, weil ein paar Stunden vorher die Weihnachtsferien begonnen hatten. Und die Kinder, auch ein bisschen aufgeregt, gingen noch einmal zu zweit oder zu dritt ihre Texte durch. Um die Stille war es geschehen.
Mesner Franz war stolz, dass seine Enkelin Klara schon zum zweiten Mal mitspielte, letztes Jahr als Hirtenmädchen, jetzt in einer Hauptrolle als Verkündigungsengel. Und Müllers Enkel Johannes, Klaras Bruder, zugleich Oberministrant, aber mit vierzehn Jahren schon viel zu alt zum Mitspielen, war als Beleuchter eingesetzt und kümmerte sich um die Technik.
Bisher hatten die Kinder mit Frau Maier immer im warmen Pfarrheim geprobt, das jetzt war die letzte Probe mit den richtigen Gewändern und allen Dingen, die man für das Spiel so brauchte. Die leere Krippe vor dem Altar hatte Mesner Franz schon am Vormittag aufgestellt und mit Stroh gefüllt. Die Vorbereitungen nahmen doch um die zwanzig Minuten in Anspruch, bis alle Gewänder saßen, alle Gegenstände ausgeteilt waren und jeder seinen Platz zugewiesen bekam. Frau Maier hatte einige Mühe, in den quirligen Haufen Ruhe zu bringen, damit man konzentriert proben konnte. Dann war es so weit, dass man anfangen konnte.
Aber Klara sagte: „Halt, das Wichtigste fehlt noch. Wir haben das Jesuskind noch nicht.“ Das Jesuskind, das war eine wertvolle geschnitzte Holzfigur, ungefähr 150 Jahre alt, beinahe so groß wie ein richtiges neugeborenes Kind. Es verbrachte fast das ganze Jahr in einem stabilen Karton, der mit Seidenpapier ausgepolstert war. Und der Karton lag in einer großen Schublade in der Sakristei. Mesner Müller gab die Figur immer erst heraus, nachdem alles andere vorbereitet war, damit im Trubel nichts an der Figur kaputt ging. Er sagte zu seiner Enkelin: „Ja, Klara, komm mit in die Sakristei, ich gebe dir das Jesuskind. Sei aber ganz vorsichtig damit!“ Er öffnete die Schublade, und Klara nahm den Deckel von dem Karton ab. Da war ein Nest von feinem, sauberen Seidenpapier – und sonst nichts.
Klara wurde bleich und ihr Großvater noch bleicher. Das Jesuskind war verschwunden. Einfach spurlos weg. Wie konnte das sein? Mesner Müller ging die Möglichkeiten durch: Er selbst hatte das Kind nicht. Dem Aushilfsmesner konnte man auch trauen, dem Pfarrer sowieso. Und auch den Frauen, die immer am Freitagvormittag die Kirche putzten, traute er keinen Diebstahl zu.
Sein erster Verdacht war: Das war ein Streich der Ministranten. Um ihn nicht bloßzustellen, rief er seinen Enkel in die Sakristei und schickte Klara mit leeren Händen in die Kirche zurück: „Sag mal, habt ihr Ministranten das Jesuskind versteckt“?“ Aber Johannes sagte: „Nein, Opa. Das wäre zwar mal eine Idee, um dich zu erschrecken. Aber wir haben da gar nichts gemacht. Ich habe keine Ahnung, wo das Jesuskind ist. Die Schachtel bleibt doch das ganze Jahr zu.“
„Diesmal anscheinend nicht“, gab der Mesner zurück. Aber er wusste: Sein Enkel und seine Freunde machten zwar manchen Unsinn, aber lügen würde er jetzt nicht. Dafür war die Sache zu ernst.
Zum Glück geriet Mesner Franz nicht in Panik. Als erstes ging es darum, die Probe sicherzustellen. Er sprach kurz mit Frau Maier, und die stimmte zu, wenn auch nicht ganz glücklich, wie in den vergangenen Proben eine zusammengerollte Decke als Andeutung für das Kind zu nehmen. Müller versprach den Kindern: „Am Montag, am Heiligen Abend werdet ihr ein schönes Kind haben.“
Schritt zwei der Krisenbewältigung war der Pfarrer. Müller rief ihn an und sicherheitshalber auch den Kirchenpfleger und die Vorsitzende des Pfarrgemeinderats dazu. Innerhalb von zwanzig Minuten kam die kleine Krisensitzung zusammen. Die Stimmung war nicht schön. Die wertvolle Jesusfigur verschwunden, so kurz vor Weihnachten, das war mehr als ärgerlich. Zu viert suchten sie noch einmal die Sakristei ab – aber ohne Erfolg. Keiner hatte die geringste Ahnung, was man noch tun konnte. Für die Polizei war es noch zu früh, vielleicht gab es ja eine einfache Lösung, an die bloß gerade niemand dachte. Der Kirchenpfleger schlug vor, schnell noch auf dem Weihnachtsmarkt ein neues Jesuskind zu kaufen, aber den anderen gefiel das gar nicht – eine halbwegs schöne lebensgroße Figur, wenn überhaupt, dann bekam man die nicht unter 1000 Euro. Die wollte der Pfarrer nicht ausgeben, bevor feststand, dass die alte Figur wirklich endgültig weg war.
Der Pfarrer schlug vor: „Ersatzweise könnten wir ja das Evangelienbuch in die Krippe legen. Gottes Wort ist Mensch geworden. So steht es doch im Johannesevangelium.“ Aber die anderen waren dagegen: „Das verstehen vielleicht die Erwachsenen, aber für das Krippenspiel ist das nichts.“ Etwas ratlos ging man wieder auseinander. Mesner Franz versprach, noch einmal genau nachzusuchen.
Die Probe war inzwischen zu Ende, die meisten Kinder heimgegangen. Johannes und Klara gingen noch einmal in die Sakristei. „Opa, brauchst du uns noch? Können wir noch etwas helfen?“
Und Mesner Franz hatte eine Idee. Er fragte Klara: „Könnten wir nicht eine große Puppe von dir haben, die diesmal das Jesuskind spielt?“ Klara war leicht entsetzt. „Opa, ich werde im Januar schon zehn. Da spielt man doch nicht mehr mit Puppen. Wir haben letztes Jahr alle meine Puppen zu meiner kleinen Cousine an die Nordsee geschickt. Ich habe keine mehr.“ Mesner Franz war etwas verlegen. „Entschuldige bitte, als Großvater vergisst man immer wieder, wie groß die eigenen Enkel schon sind.“ „Schon gut“, sagte Klara, „mir fällt da aber noch etwas ein. Eine Puppe haben wir nicht mitgeschickt, die war schon ein bisschen stark abgenutzt, ich könnte auch sagen: abgeliebt. Die könnte passen“.
„Na prima“, sagte Franz, „aus Liebe abgenutzt macht gar nichts, denn Jesus kommt ja auch als Kind in großer Liebe in die Welt."
„Ist gut“, sagte Klara. „Ich bringe die Puppe am Heiligen Abend mit.“ Froh, wenigstens eine Notlösung gefunden zu haben, gingen Großvater und Enkel auseinander. Aber im Weggehen entdeckte Franz in Klaras Augen ein Lächeln, das er schwer deuten konnte. Irgendetwas Besonderes hatte sie vor.
Das vierte Adventswochenende ging ohne weitere Vorfälle vorüber, Franz hatte nicht viel Zeit, nach dem Kind zu suchen. Und er fand es tatsächlich nicht. Er machte sich nur etwas Sorgen: Sollte jetzt mit 72 Jahren sein Gedächtnis schon schlapp machen? Sollte er selbst die Jesusfigur verlegt haben und sich nicht erinnern?
Und dann war es Heiliger Abend, vier Uhr nachmittags. Wieder füllte sich die Kirche mit Kindern, diesmal viel mehr, auch viele kleine und deren Eltern. Um halb fünf sollte die Kinderkrippenfeier beginnen. Auch Klara war wie vereinbart pünktlich um vier Uhr da, und sie übergab ihrem Opa Franz eine Tasche, dabei wieder ein seltsames Lächeln in den Augen. Franz rief Frau Maier zu sich, um das Aushilfsjesuskind zu begutachten. Gemeinsam öffneten sie die Tasche. Da lag das Kind, die geliebte Puppe von Klara: Fast lebensgroß mit weit offenen dunklen Augen. Die Haare waren ziemlich zerzaust, die Haut stark verkratzt, an einer Stelle am Bauch klaffte ein kleines Loch. Das linke Bein baumelte lose herum, nur noch durch einen Faden mit dem Körper verbunden. Und das Kind hatte dunkle, fast schwarze Haut. Früher hätte man so etwas „Neger-Babypuppe“ genannt. Heute sagt man so nicht mehr, weil „Neger“ kein schönes Wort ist. Aber erschrocken waren doch alle, die da standen: Opa Franz, Frau Maier und die anderen Hauptrollenkinder des Krippenspiels. Konnte man das machen: eine dunkelhäutige, abgenutzte, mehrfach heftig beschädigte Puppe als Jesuskind? Was würden die anderen Kinder denken? Was würden die vielen Eltern und Großeltern sagen? Andererseits hatte man so kurz vor dem Spiel gar keine andere Wahl. Eine andere Ersatzpuppe aufzutreiben war unmöglich. Sollte man das Risiko eingehen?
Als der erste Schreck verflogen war, sagte Klara zu Opa Franz und Frau Maier: „Kommt ihr mal bitte mit in die Sakristei. Ich wollte euch noch etwas zeigen.“ Und in der Sakristei zog Klara eine ausgetrennte Schreibheftseite heraus und fragte. “Ich habe meinen Text ein bisschen verändert, darf ich das so sagen?“ Frau Maier las die Zeilen durch, lächelte Klara zu und sagte: „Das ist ja großartig. Du hast Weihnachten begriffen, ja mach das so“ Opa Franz fragte: „Hast du das selbst geschrieben?“ Und Klara fügte hinzu: „Johannes hat mir dabei ein bisschen geholfen.“
Und so kam es, dass im Krippenspiel der Verkündigungsengel diesmal ein paar Zeilen mehr sagte als sonst. Als Klara in ihrem Engelgewand vor der großen Gemeinde stand, sagte sie laut und mutig:
„Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteilwerden soll.
Ja, dem ganzen Volk:
Den Kleinen und den Großen,
den Schwarzen und den Weißen
und den Gelben und den Roten,
den Gesunden und den Kranken,
denen mit und denen ohne Behinderung,
den Reichen und den Armen.
Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren;
er ist der Christus, der Herr.
Ja, für euch alle ohne Ausnahme ist er geboren,
für die Heilen und die Kaputten,
für die Glücklichen und die Traurigen
für die Geliebten und die Ungeliebten
für die Frommen und die Sünder,
ganz einfach für alle Menschen.
Und als das Krippenspiel zu Ende war, sagte niemand auch nur ein Wort gegen das schwarze, beschädigte Jesuskind. Der Pfarrer ließ das schwarze Kind, Klaras Puppe über die Feiertage in der Krippe liegen und baute Klaras Zeilen sogar in seine Predigt ein.
Am ersten Werktag nach den beiden Feiertagen suchte Franz nochmal nach der alten Jesuskindfigur. Klara und Johannes halfen in der Sakristei. Johannes kletterte auf eine Leiter, und da sah er das Kind: Es lag ganz hinten auf dem hohen Sakristeischrank, nur von der Leiter aus zu sehen. Wahrscheinlich hatte jemand beim letzten Frühjahrsputz die Schachtel mit neuem Seidenpapier ausgepolstert, das Kind auf den Schrank gelegt, und versehentlich war es nach hinten gerutscht. Vorsichtig reichte Johannes seinem Opa Franz das Kind nach unten. Und Mesner Franz sagte zu dem Kind: „Schön, dass du wieder da bist. Aber dieses Jahr hast du Urlaub. Wir haben eine wunderbare Vertretung für dich gefunden.“
Und Klara sagte: „Danke, Opa!“
erzählt von Peter Wünsche
1. Die Nacht ist vorgedrungen, / der Tag ist nicht mehr fern! / So sei nun Lob gesungen / dem hellen Morgenstern! / Auch wer zur Nacht geweinet, / der stimme froh mit ein. / Der Morgenstern bescheinet / auch deine Angst und Pein.
Römer 13,11.12
2. Dem alle Engel dienen, / wird nun ein Kind und Knecht. / Gott selber ist erschienen / zur Sühne für sein Recht. / Wer schuldig ist auf Erden, / verhüll nicht mehr sein Haupt. / Er soll errettet werden, / wenn er dem Kinde glaubt.
3. Die Nacht ist schon im Schwinden, / macht euch zum Stalle auf! / Ihr sollt das Heil dort finden, / das aller Zeiten Lauf / von Anfang an verkündet, / seit eure Schuld geschah. / Nun hat sich euch verbündet, / den Gott selbst ausersah.
4. Noch manche Nacht wird fallen / auf Menschenleid und -schuld. / Doch wandert nun mit allen / der Stern der Gotteshuld. / Beglänzt von seinem Lichte, / hält euch kein Dunkel mehr, / von Gottes Angesichte / kam euch die Rettung her.
5. Gott will im Dunkel wohnen / und hat es doch erhellt. / Als wollte er belohnen, / so richtet er die Welt. / Der sich den Erdkreis baute, / der läßt den Sünder nicht. / Wer hier dem Sohn vertraute, / kommt dort aus dem Gericht.
Text: Jochen Klepper 1938
Zum Lied
Mein Gott, dein hohes Fest des Lichtes
hat stets die Leidenden gemeint.
Und wer die Schrecken des Gerichtes
nicht als der Schuldigste beweint,
dem blieb dein Stern noch tiefverhüllt
und deine Weihnacht unerfüllt.
Die ersten Zeugen, die du suchtest,
erschienen aller Hoffnung bar.
Voll Angst, als ob du ihnen fluchtest,
und elend war die Hirtenschar.
Den Ärmsten auf verlassenem Feld
gabst du die Botschaft an die Welt.
Die Feier ward zu bunt und heiter,
mit der die Welt dein Fest begeht.
Mach uns doch für die Nacht bereiter,
in der dein Stern am Himmel steht.
Und über deiner Krippe schon
zeig uns dein Kreuz, du Menschensohn.
Herr, daß wir dich so nennen können,
präg unseren Herzen heißer ein.
Wenn unsere Feste jäh zerrönnen,
muß jeder Tag noch Christtag sein.
Wir preisen dich in Schmerz, Schuld, Not
und loben dich bei Wein und Brot.
Jochen Klepper
aus Jesaja 40:
Tröstet, tröstet mein Volk!, spricht euer Gott. Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist; denn sie hat die volle Strafe empfangen von der Hand des HERRN für alle ihre Sünden. Es ruft eine Stimme: In der Wüste bereitet dem HERRN den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott! Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden, und was uneben ist, soll gerade, und was hügelig ist, soll eben werden; denn die Herrlichkeit des HERRN soll offenbart werden, und alles Fleisch miteinander wird es sehen; denn des HERRN Mund hat's geredet.
Es spricht eine Stimme: Predige!, und ich sprach: Was soll ich predigen? Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des HERRN Odem bläst darein. Ja, Gras ist das Volk! Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich.
Zion, du Freudenbotin, steig auf einen hohen Berg; Jerusalem, du Freudenbotin, erhebe deine Stimme mit Macht; erhebe sie und fürchte dich nicht! Sage den Städten Judas: Siehe, da ist euer Gott; siehe, da ist Gott der HERR! Er kommt gewaltig, und sein Arm wird herrschen. Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her.
Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte. Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen und die Mutterschafe führen.
aus Jesaja 40:
Tröstet, tröstet mein Volk!, spricht euer Gott. Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist; denn sie hat die volle Strafe empfangen von der Hand des HERRN für alle ihre Sünden. Es ruft eine Stimme: In der Wüste bereitet dem HERRN den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott! Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden, und was uneben ist, soll gerade, und was hügelig ist, soll eben werden; denn die Herrlichkeit des HERRN soll offenbart werden, und alles Fleisch miteinander wird es sehen; denn des HERRN Mund hat's geredet.
Es spricht eine Stimme: Predige!, und ich sprach: Was soll ich predigen? Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des HERRN Odem bläst darein. Ja, Gras ist das Volk! Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich.
Zion, du Freudenbotin, steig auf einen hohen Berg; Jerusalem, du Freudenbotin, erhebe deine Stimme mit Macht; erhebe sie und fürchte dich nicht! Sage den Städten Judas: Siehe, da ist euer Gott; siehe, da ist Gott der HERR! Er kommt gewaltig, und sein Arm wird herrschen. Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her.
Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte. Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen und die Mutterschafe führen.
1. Gott sei Dank durch alle Welt, / der sein Wort beständig hält / und der Sünder Trost und Rat / zu uns hergesendet hat.
2. Was der alten Väter Schar / höchster Wunsch und Sehnen war / und was sie geprophezeit, / ist erfüllt in Herrlichkeit.
3. Zions Hilf und Abrams Lohn, / Jakobs Heil, der Jungfrau Sohn, / der wohl zweigestammte Held / hat sich treulich eingestellt.
4. Sei willkommen, o mein Heil! / Dir Hosianna, o mein Teil! / Richte du auch eine Bahn / dir in meinem Herzen an. EG 12
Die Flöte
Die Flöte
Maria kam in einem Jahr zur Welt, das vor allem als Unglücksjahr in der Erinnerung der Menschen geblieben ist: 1929. In diesem Jahr begann die große Wirtschaftskrise, die dann auch eine der Ursachen für den Zweiten Weltkrieg wurde. Maria wurde als Kind einer kinderreichen Familie in Schlesien geboren, sie war das achte von elf Kindern. Ihr Vater war in der großen Krise ein paar Monate arbeitslos, fand aber dann wieder eine Stelle als einfacher Arbeiter in einer großen Textilfabrik. Die Mutter kümmerte sich um die kleineren Kinder und verdiente abends durch Näharbeiten etwas dazu. Sie stammte aus einem Bauernhof; ihr Bruder, also Marias Onkel, gab ihr immer etwas von den guten Sachen ab, Butter oder Eier zum Beispiel, und so musste man trotz der schweren Zeiten nie Hunger leiden; meistens reichte es auch für den sonntäglichen Streuselkuchen. Aber sparsam sein war selbstverständlich.
Als Maria vier Jahre alt war, kam Hitler an die Macht, und vieles veränderte sich. Marias Familie war der Kirche sehr verbunden, und sie bekam schon als Kind mit, dass es die Nationalsozialisten mit den Christen nicht gut meinten. Vieles wurde verboten, katholische Jugendgruppen und Vereine, Prozessionen und Wallfahrten, alles, was öffentlich sichtbar war, wurde mehr und mehr untersagt. Nur noch die Gottesdienste in der Kirche blieben – und die Glaubensstunden am Nachmittag für die Kinder und Jugendlichen. So wuchs Maria in einer dunklen Zeit auf, aber ihre Familie und die Kirche boten ihr einen Schutzraum, der viel Böses draußen hielt.
Zu ihrem achten Geburtstag bekam Maria eine Blockflöte geschenkt. Für Musikunterricht war kein Geld da. Aber das machte nichts. In den nachmittäglichen Glaubensstunden mit dem Kaplan im Pfarrhaus gab es ältere Mädchen, die ihr das Flötespielen schnell beibrachten – so schwer ist das nicht. Und so konnte Maria mit neun Jahren so spielen, dass man ihr in der Familie unterm Christbaum gut zuhören konnte, und mit zehn Jahren spielte sie ihre Flöte als Solo beim Krippenspiel in der Kirche. Das war schon im ersten Kriegsjahr. Aber der Krieg war noch viele Kilometer weg.
Die jungen Leute, die sich da als katholische Jugend in den Glaubensstunden trafen, erlebten den Ernst der Zeit mit. Man hielt nichts von sentimentalem Kitsch und man hielt schon gar nichts von dem Militärdenken, dass überall Einzug hielt. „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ – das Lied war undenkbar mit seinem Wunsch „ja, ein ganzes Kriegesheer möchte ich gerne haben“. Aber auch „O Tannenbaum“, das nur die bürgerlichen Wohnzimmerweihnacht besang, erschien den jungen Leuten unpassend. Selbst mit „Stille Nacht“ konnte man nicht so sehr viel anfangen.
Es waren damals gerade ein paar Notenhefte erschienen, die alte Weihnachtslieder wieder aufbrachten. Es waren Lieder aus einer Zeit, als noch nicht jeder Reim abgegriffen und jeder Vergleich verbraucht war. Es waren Lieder aus der Zeit von 1500 bis 1700, als sich in den Kirchen muttersprachliche Lieder allmählich durchsetzten. Es waren Lieder voll sprachlicher Kraft, voller schöpferischer Bilder und offen für das ganze Leben mit seinen Schatten und seinen Freuden. Besonders das Lied „Es ist ein Ros entsprungen“, damals gerade wiederentdeckt, hatte es Maria angetan, es war ihr Lieblingslied. Und im Advent übte sie täglich, es immer schöner zu spielen. Ab zwölf Jahren durfte sie es nicht nur beim Krippenspiel der Kinder vorspielen, sondern auch nachts in der Christmette, manchmal allein, manchmal mehrstimmig mit anderen Flöte spielenden Mädchen.
Wie es mit dem Krieg weiterging, ist bekannt: Er ging für die Deutschen verloren. Und auch Marias Familie wurde getroffen: Marias ältester Bruder fiel als Soldat. Zwei weitere Brüder wurden eingezogen – jeden Tag musste sie um sie bangen, zusammen mit den Eltern und den anderen Geschwistern. Einige Geschwister starben an Kinderkrankheiten, weil es im Krieg zu wenig Medikamente gab. Und als der Krieg im Grunde schon verloren war, musste Marias Vater mit 50 Jahren noch zum „Volkssturm“, um zu dienen als letztes Aufgebot.
Der Gegner kam näher, bedrohlich nahe an Marias Heimat. Was war zu tun? Die Entscheidung war schwer, aber im Rückblick war sie richtig: Die Mutter und die Kinder, die noch zu Hause waren, machten sich auf den Weg – weg von der Front. Sie packten zwei Koffer auf einen Leiterwagen, setzten sich Rucksäcke auf und gingen so zum Bahnhof: Mutter, die inzwischen fünfzehnjährige Maria, zwei ältere Schwestern und der kleinste Bruder. Mit einem der letzten Züge verließen sie ihre Heimatstadt, voller Hoffnung, sie bald einmal wiederzusehen. Aber daraus wurde nichts.
Tagelang waren sie in Zügen unterwegs, Waggons vierter Klasse, auch Viehwagen waren ihre Unterkunft. Es war eine verzweifelte Stimmung. Aber manchmal zog Maria dann ihre alte Blockflöte aus dem Rucksack und begann zu spielen: Volkslieder, Wanderlieder, manchmal auch Weihnachtslieder und immer wieder „Es ist ein Ros entsprungen“. Und mitten in der Angst und der Hoffnungslosigkeit kam ein klein wenig Freude auf und ein bisschen Licht im Dunkeln der Züge und Flüchtlingslager: Und hat ein Blümlein bracht – mitten im kalten Winter, wohl zu der halben Nacht.
Der Krieg war verloren – aber er war wenigstens zu Ende. Von den elf Geschwistern hatten sechs den Krieg überlebt und der Vater auch. In einer fränkischen Kleinstadt wurde nach einem Jahr Wanderdasein eine Unterkunft gefunden. Maria und ihre Geschwister fanden schnell Anschluss in der neuen Heimat. Wieder lief es über die Kirche und die Musik. In den Jugendgruppen der katholischen Stadtpfarrei fanden Maria und ihre Geschwister neue Freunde. Man wanderte und sang und spielte Flöte und Gitarre, man war trotz der vergangenen dunklen Jahre voller Zuversicht. Ein Reis war gewachsen aus dem toten Rest eines Stammes.
Marias Leben verlief gut. Sie fand einen liebenden Mann, zwei Kinder wurden ihr geboren, später vier Enkel. Man feierte viele Feste zusammen, immer wieder Weihnachten, immer wieder kam dann die alte Blockflöte zu Ehren. Es war ein friedliches Leben, nicht ohne Sorgen, aber voller Güte und Hilfsbereitschaft.
Jahrzehnte später. Maria war eine alte, aber rüstige und immer noch aktive Frau geworden. Aus heiterem Himmel geschah das Unglück: Maria wurde plötzlich krank, Tage lang lag sie bewusstlos und unbeweglich da, und als sie endlich die Augen öffnete, konnte sie nicht mehr sprechen; nur noch „ja“ und „nein“ brachte sie über ihre Lippen. Ihre Familie kümmerte sich liebevoll um sie, auch als sie viel Pflege brauchte.
Wieder ein paar Monate später. Es war der 24. Dezember, vormittags. Die stumme Maria saß im Rollstuhl unter dem Christbaum. Die Kinder und die Enkel schmückten ihn. In der Kiste mit dem Christbaumschmuck fand Enkel Johannes eine uralte Flöte. Er nahm sie heraus, probierte vorsichtig, da er selbst Flöte spielen lernte. Die Töne, die da kamen, waren erst einmal nicht sehr erfreulich. Aber ein Flötenspieler weiß, was man da machen muss: Ein wenig Fett auf den Kork zwischen Flötenkopf und –körper streichen, eine Zeitlang spielen, damit das Holz wieder Feuchtigkeit annimmt, das löst fast immer das Problem.
Am Abend saß man dann wieder zusammen. Johannes hatte die alte Flöte neu eingespielt. Sie tat es wieder einwandfrei. Er fand ein altes Notenheft mit der alten Melodie. Und er ließ die Flöte klingen. Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart. Und das Lied stieß auf Resonanz. Im Inneren von Maria stieß es eine Tür auf. Die alte, kranke, stumme Großmutter Maria bewegte ihre Lippen, und ganz zart sang sie mit: Wie uns die Alten sungen, von Jesse kam die Art. Und hat ein Blümlein bracht: mitten im kalten Winter wohl zu der halben Nacht.
Diese Geschichte ist nur zum Teil erfunden. Maria gibt es, und sie lebt noch, auch wenn sie im wirklichen Leben anders heißt. Das große Wunder blieb aus: Sie kann jetzt, Jahre später, immer noch nicht sprechen; die Worte fallen ihr nicht mehr ein. Aber sie kann singen und tut das immer noch gern, vor allem an Weihnachten.
erzählt von Peter Wünsche
1. Wie soll ich dich empfangen / und wie begegn ich dir, / o aller Welt Verlangen, / o meiner Seelen Zier? / O Jesu, Jesu, setze / mir selbst die Fackel bei, / damit, was dich ergötze, / mir kund und wissend sei. 2. Dein Zion streut dir Palmen / und grüne Zweige hin,* / und ich will dir in Psalmen / ermuntern meinen Sinn. / Mein Herze soll dir grünen / in stetem Lob und Preis / und deinem Namen dienen, / so gut es kann und weiß. * Matthäus 21.83. Was hast du unterlassen / zu meinem Trost und Freud, / als Leib und Seele saßen / in ihrem größten Leid? / Als mir das Reich genommen, / da Fried und Freude lacht, / da bist du, mein Heil, kommen / und hast mich froh gemacht. 4. Ich lag in schweren Banden, / du kommst und machst mich los; / ich stand in Spott und Schanden, / du kommst und machst mich groß / und hebst mich hoch zu Ehren / und schenkst mir großes Gut, / das sich nicht läßt verzehren, / wie irdisch Reichtum tut. EG 11
Ein alter Esel
"He, was machst du da? Wer bist du eigentlich und wo kommst du so plötzlich her? Wer hat dich hereingelassen? Was fällt dir ein, meinen Stall zu betreten? Das ist ja der Gipfel!" Das Kamel war wirklich außer sich. Es streckte die Nase in die Höhe, schüttelte den Kopf, holte kräftig Luft und wieherte dann mit ganzer Kraft: "RAUS HIER!"
"Ganz cool bleiben!" sagte der Esel. "Was willst du eigentlich: Soll ich gehen, oder soll ich dir deine Fragen beantworten? Beides zugleich geht nicht."
"Zuerst die Fragen und dann raus", sagte das Kamel. "Ich kann Esel nicht ausstehen."
"Wir werden ja sehen." Den Esel schien nichts aus der Ruhe zu bringen. "Also schön langsam eine Frage nach der anderen: Ich bin ein alter Esel. Ich komme aus Judäa. Und dein Herr hat meinem Herrn erlaubt, dass ich heute Nacht hier bleibe. Du wirst es schon ein paar Stunden mit mir aushalten müssen. Heute ist das sozusagen nicht dein Stall, heute Nacht ist das unser Stall."
"Eine Zumutung ist das. Mein Herr lässt doch auch kein Schwein in sein Schlafzimmer. Und ich soll mir meinen Stall mit einem Esel teilen?"
"Der Vergleich geht nicht auf. Schweine stinken, Esel nicht."
"Aber Esel sind doof!"
"Und Kamele sind ziemlich eingebildet. Bei uns daheim ist übrigens 'du Kamel' ein Schimpfwort für die ganz Doofen."
In seiner Würde schwer gekränkt, gab das Kamel keine Antwort. Als sie so eine Viertelstunde nebeneinander hergeschwiegen hatten, in der das Kamel einsah, dass es an seiner Lage jetzt nichts ändern konnte, siegte doch wieder die Neugier. "Aus Judäa bist du? Wie kommst du dann hierher nach Ägypten?"
"Das ist eine lange Geschichte."
"Wir haben ja jetzt Zeit. Also erzähl schon." Und insgeheim dachte das Kamel: 'Wenn ich es schon mit einem Esel aushalten muss, dann kann er mir wenigstens die Langeweile vertreiben.'
"Also gut, dann fange ich mal ganz am Anfang an."
"Wo denn sonst?"
"Eben. Also, geboren wurde ich vor 16 Jahren auf der Eselsfarm von Kisch. Schön war es da. Das Futter war reichlich, und wir jungen Esel spielten den ganzen Tag miteinander. Natürlich fütterte uns Kisch nicht aus reiner Tierliebe. Er wollte halt, dass wir schnell stark werden und er einen guten Preis für uns erzielt. Das war uns aber egal. Hauptsache, wir konnten das Leben genießen. Aber alles Schöne ist immer so schnell vorbei. Als ich anderthalb Jahre alt war, verkaufte mich Kisch an Rufus. Der war ein Feldwebel in der römischen Armee."
"Die Römer – regieren die bei euch auch?"
"Natürlich, die regieren doch die ganze Welt. Jetzt begann für mich der Ernst des Lebens, wie das die Menschen immer sagen. Aber für einen Esel ist der Ernst des Lebens viel ernster als für Menschen, glaube ich. Rufus war nicht böse. Aber er war eben ein römischer Soldat. Hart zu sich selbst, hart zu den anderen, und besonders hart zu mir. Ich half ihm sein Haus zu bauen, ich trug seine Frau und seine Kinder und sein Gepäck, wenn er wieder einmal versetzt wurde, ich begleitete ihn als Packtier ins Manöver. Das war immer für mich das Schlimmste."
"Nicht der Krieg?"
"Den habe ich nie erlebt. Es ist doch jetzt der Römische Friede angesagt."
"Schöner Friede: Alle kuschen vor den Römern, da brauchen die gar keinen Krieg; die kriegen auch so, was sie wollen. Aber wir schweifen ab. Erzähl weiter". Fast schon bedauerte es das Kamel, dass es Interesse gezeigt hatte. Es wollte eigentlich lieber in kühler Distanz bleiben.
"Es war halt ein richtiges Eselleben. Viel Arbeit, schon genug Futter, aber meistens bloß Gras und im Winter Heu. Wenn Rufus gut gelaunt war, gab es einmal einen Krug Gerste, wenn er schlecht gelaunt war, gab es nichts. Und wenn er sehr schlecht gelaunt war, dann gab es Schläge. Leider war er ziemlich oft sehr schlecht gelaunt. – Als ich ungefähr vier Jahre alt war, begann ich mich zu wehren. Ich suchte mir die Rolle 'störrischer Esel' aus."
"Was gibt's da auszusuchen? Ihr Esel seid doch alle störrisch."
"Typisch Kamel: gescheit tun, aber keine Ahnung. Wir Esel sind nicht von Natur aus störrisch. Es ist eben unsere Art, sich zu wehren. Zwischen Rufus und mir wurde das so ein richtiger Kleinkrieg. Wenn ich nicht so wollte wie er, dann schlug er zu. Wenn er schlug, dann wollte ich erst recht nicht mehr. Dann schlug er kräftiger. Da wurde ich noch bockiger. Das ging so lange, bis einer nachgab."
"Der Klügere gibt nach."
"Das sagen die Menschen, aber das stimmt auch nicht immer. Wenn Nachgeben ein Zeichen von Klugheit ist, dann müsste ich ja das reinste Superhirn sein. Aber ich gab meistens nur wegen der Schmerzen nach. Das Spiel wiederholte sich fast jeden Tag von neuem, er schlug und ich bockte. Dem Rufus schrieen sie schließlich nach: 'Ist denn dein Esel aus Holz?' Einer sagte einmal: 'Mach doch deinem Esel Räder, dann kannst durch ihn ja als Spielzeugtier hinter dir herziehen.' Rufus war stadtbekannt für seinen störrischen Esel. Aber Rufus konnte sich keinen anderen Esel leisten und schon gar kein Pferd oder gar ein Kamel. Er musste mich behalten."
"Dein Pech", warf das Kamel ein.
"Sein Pech aber auch", sagte der Esel. "Fast vierzehn Jahre war ich im Dienst von Rufus. Arbeiten, fressen, schlafen, manchmal Schläge: ein richtiges Eselleben eben. Ich glaube, den meisten von uns geht es nicht besser. Und ich dachte, das ist eben unser Esellos – bis dann der Tag kam, der alles änderte."
"Aha", witzelte das Kamel, "da kam die gute Fee und kaufte dich frei."
"Nicht im Geringsten. Der Tag fing schon schlecht an. Nur ein Büschel halbfaules Heu zum Frühstück. Dann ging es auf den Markt. Es roch dort wunderbar, aber niemand gab mir auch nur eine Rübe. Rufus lud mir einen Korb Fische und einen Korb Feigen auf. Daheim stellt er die Körbe neben mir ab. Den Korb mit den Fischen trug er zuerst ins Haus. Das war sein Fehler."
"Wieso?"
"Kannst du dir doch denken. Eigentlich wollte ich nur eine Feige aus dem anderen Korb naschen. Aber die schmeckte so süß. Also genehmigte ich mir eine zweite und dann noch eine dritte. Nach der fünften dachte ich mir: 'Jetzt merkt er es bestimmt. Dann ist eh schon alles egal.' Als Rufus wieder nach draußen kam, war der Korb leer – das heißt nein, zwei Feigen waren noch drin, aber die waren schon ein bisschen schimmelig, die mochte ich auch nicht."
"Sehr witzig!"
"Gar nicht witzig. Rufus wurde erst bleich und dann knallrot. Er zog seinen Stock und schlug zu. Zum ersten Mal nicht auf mein Hinterteil, sondern auf meinen Kopf. Er schlug nicht einmal oder zweimal, er hörte gar nicht mehr auf. In meiner Not tat ich dann auch etwas, was ich noch nie getan hatte: Ich biss zu, nicht allzu fest, aber sein Unterarm war schon ein bisschen blutig."
"Ein bisschen?"
"Kann schon sein, dass er ein bisschen sehr blutig war. Verblutet ist Rufus jedenfalls nicht. Aber seine Wut war jetzt endlos und gab ihm die Kraft, noch mehr zuzuschlagen. Ich brach zusammen. Er ließ mich auf der Straße liegen. Er meinte wohl, er hätte mich erschlagen."
"Dann hätte ich jetzt meinen Stall für mich", raunzte das Kamel, aber es war nicht ganz ernst gemeint.
"Die Nacht kam, und in der Kühle erholte ich mich ein bisschen. Ich wachte mit furchtbaren Kopfschmerzen auf. Vorsichtig stand ich auf, und dann lief ich weg. Ich lief die ganze Nacht durch, den ganzen nächsten Tag und noch eine Nacht. Dann konnte ich nicht mehr. Der Wirt Onophilos fand mich. Er brachte mich in seinen Stall. Er pflegte mich. Er gab mir zu fressen. Mit mir ging es schnell wieder aufwärts. 'Es gibt eben doch auch gute Menschen', dachte ich. Aber im Stall neben mir stand ein Ochse. Der verriet mir, dass Onophilos bei den Menschen als hervorragender Wirt bekannt war, berühmt wegen seiner guten Rinder- und Eselssteaks. Da war mir klar, warum mich Onophilos so gut pflegte."
"Igitt – Eselsbraten!" Das Kamel rümpfte die Nase.
"Viele mögen das nicht, die Juden dürfen gar nicht, aber für manche andere ist das eine Delikatesse. Ich war vom Regen in die Traufe gekommen. Ich sah mich schon am Spieß gegrillt. Aber wie du siehst, ich lebe."
"Bist du wieder geflohen?"
"Das ging bei Onophilos nicht, er benutzte feste Ketten im Stall. Es kam ganz anders. Eines Tages war in der Stadt unheimlich viel los. Ich sah es durch das Stallfenster. Menschen kamen aus der Umgebung und von weit her, Reiche, Arme, Junge, Alte, Gesunde und sogar Kranke mit Krücken und Bahren. Es war ein Riesengewühl. Alle wollten in der Stadt bleiben. Irgendwie hatte es wieder so einen seltsamen Befehl von den Römern gegeben. Die hatten wohl gemerkt, dass sie mit der Steuer angeschmiert wurden. Und jetzt wollten sie genau wissen, wie viele Leute es eigentlich in ihrem Reich gab. Alle mussten in ihre Heimatstadt, um sich alle am selben Tag in irgendwelche Listen einzutragen. Dass das im Chaos enden musste, war klar. Den Römern war das egal. Ich glaube, die spinnen, die Römer. Jedenfalls kamen am Abend zwei junge Leute in den Stall. Ihre Reise war ein bisschen langsamer gegangen. Die Frau wartete jeden Augenblick auf ein Kind, und so mussten sie sich Zeit lassen, kamen spät in der Stadt an, und da waren alle Wirtshäuser schon voll."
"Sag bloß, die hat ihr Kind im Stall gekriegt?"
"Genau so war es. Der Mann wollte noch Hilfe holen. Aber es war schon zu spät. 'Bleib bitte bei mir', sagte sie noch, 'das geht schon so.' Das Nächste, was ich hörte, war das Schreien eines Kindes. Es war da. Es fror und es zitterte. Ein paar Windeln hatten die beiden schon mitgebracht, ein paar Decken fanden sich auch in einer Stallecke. Aber dann wollte die Frau schlafen. Sie war total fertig von der Reise und von der Geburt. Aber was wird derweil mit dem Kind? Der Fußboden war kalt, ein Bett war natürlich nicht da. Ich begriff, worum die zwei sich Sorgen machten. Ich habe ja die Sprache der Menschen einigermaßen verstehen gelernt, bloß sprechen kann ich nicht. Und mir kam eine Idee: Auffällig schnaubte ich und leckte die letzten Gerstenkörner aus der Futterkrippe, die vor mir stand. Ganz sauber machte ich den Trog. Dann ging ich einen Schritt zurück, scharrte mit den Hufen, nickte ein paar Mal mit dem Kopf in Richtung Krippe und rief einmal kräftig 'I-A'. Die Frau und der Mann dachten sich wohl zuerst: 'Jetzt ist der Esel verrückt geworden.' Aber dann begriffen sie, sahen sich an, lachten einander zu, lachten zu mir hin, legten zwei Bündel Stroh in die Krippe und das Kind darauf und deckten es gut zu. Ja, das mit der Krippe war meine Idee."
"Schlaues Kerlchen!" sagte das Kamel ironisch, aber ein bisschen Bewunderung schwang schon auch in der Stimme mit.
"Sag ich doch. Wir Esel sind gar nicht so dumm. Zum Schlafen kamen die beiden Erwachsenen übrigens erst viel später. Ständig kam Besuch, der das Kind im Futtertrog sehen wollte. Keine Ahnung, woher die das wussten. Und als die Frau und der Mann sich dann am Morgen todmüde hinlegten, da hielt ich Wache, abwechselnd mit dem Ochsen. Wenn dem Kind jemand hätte etwas tun wollen – ich hätte ihn schlimmer zugerichtet als Rufus."
"Das glaube ich dir sofort, Beißerchen" sagte das Kamel.
Der Esel ließ sich nicht ärgern. "Ein paar Tage ging das so. Es war schön und friedlich mit den anderen im Stall. Ich vergaß fast, dass auf mich die Bratpfanne wartete. Es hätte ruhig endlos so weiter gehen können. Aber es kam wieder anders. Eines Morgens weckten mich laute Stimmen. Die eine gehörte Onophilos. Die andere gehörte dem Metzger – nein, gar nicht wahr. Die gehörte dem jungen Vater. Der verhandelte mit dem Wirt. Ich begriff: Er wollte mich kaufen. Der Wirt wollte mich nicht hergeben. Aber der junge Mann kratzte all sein Geld zusammen und bot es dem Wirt. Ich merkte: Der Mann war unheimlich unter Druck und brauchte unbedingt ganz schnell einen Esel. Onophilos bekam am Ende einen unverschämten Preis und gab mich her."
"Und weiter?"
" 'So, du bist jetzt unser Esel', sagte die Frau zu mir. Ich bin Mirjam, das dort ist Josef Bar Jaakov, das Kind heißt Joschua und dich werde ich Issachar nennen.' Ein Name für mich – das war etwas Neues. Bei Rufus war ich immer nur "der Esel" oder "das Vieh", je nachdem, wie seine Laune war, und natürlich hatte mir auch Onophilos keinen Namen gegeben."
"Issachar, das klingt aber komisch."
"Passt schon, ich finde den Namen schön. Klingt ein bisschen wie ein Eselsschrei. Aber Mirjam sagte dann zu mir: 'Issachar, du musst uns helfen. Wir müssen fliehen, weit weg nach Ägypten. Jetzt müssen wir uns ganz auf dich verlassen können.' Dann ging alles ganz schnell. Im Nu war gepackt, viel hatten die drei nicht, und wir zogen los nach Süden. Ach, übrigens: Der Ochse ist auch nicht geschlachtet worden, aber das ist eine andere Geschichte, die erzähle ich dir morgen."
"Was, bist du morgen auch noch da?", fragte das Kamel, aber sein Entsetzen war nur noch gespielt.
"Wer weiß das schon. Nach den Wochen, die ich hinter mir habe, halte ich alles für möglich. Was nämlich dann kam, war furchtbar: Wir gingen manchmal dreißig Meilen an einem Tag. Es gab ständig Gerüchte, dass uns Soldaten auflauerten. In der Wüste bin ich – nein: sind wir fast verdurstet. Einmal gerieten wir in einen Hinterhalt von Straßenräubern, die Josef und Mirjam nur noch die Kleider am Leib ließen. Einmal gab es zwei Tage nichts zu essen und nichts zu fressen. Im Sinai mussten wir über die Berge, weil die Täler zu gefährlich waren. Bei der Überfahrt über den Nil schließlich kenterte die überfüllte Fähre, zu unserm Glück kurz vor dem Ufer. Damals bei Rufus war es anstrengend. Das hier aber, diese Flucht war die reinste Schufterei, nicht zu vergleichen. In dem Vierteljahr war ich öfter völlig fertig als in den vierzehn Jahren bei Rufus. Aber das war nur die eine Seite."
"Und die andere?"
"Das waren die drei Menschen, die mit mir unterwegs waren. Die weinten oft und schimpften manchmal, wie andere auch. Aber ich hatte das Gefühl, sie wussten sich trotz allem sicher. Sie vertrauen einem Unsichtbaren, den sie Gott nennen. Davon verstehen wir Tiere nicht viel. Aber wenn ich am Ende meiner Kräfte war, dann redeten sie mir gut zu und ließen das Kind meine Mähne streicheln. Da fühlte ich eine starke Kraft, die von dieser Hand ausgeht, und dann konnte ich doch irgendwie weiter. Ich glaube, Joschua ist ein ganz besonderes Kind. – Jetzt sind wir hier, in Ägypten. Hier werden die Mutter und das Kind übrigens mit ihren griechischen Namen genannt: Aus der Mirjam wurde eine Maria und aus dem Joschua ein Jesus. Ein bisschen Tarnung ist in dieser Lage vielleicht gar nicht schlecht."
"Und wie geht es jetzt weiter mit euch?" Zum ersten Mal fragte das Kamel wirklich mitfühlend.
"Was morgen wird, weiß ich nicht. Die drei werden wohl einige Zeit hier bleiben müssen. Josef wird hier Arbeit finden oder auch nicht. Er ist Zimmermann. Bauhandwerker werden gebraucht – aber ausländische und gar jüdische Bauhandwerker nicht so sehr. Mal sehen. In meine Heimat komme ich sicher nie mehr zurück. Für so eine weite Reise bin ich in ein paar Jahren zu alt, das weiß ich. Aber das ist jetzt egal. Ich habe sie hergebracht. Ich habe mein Teil beigetragen, dass Joschua lebt. Ich habe einmal etwas Wichtiges getan. Ich bin ein anderer Esel geworden. Ich bin nicht mehr das störrische Vieh von Rufus. Ich bin der alte Esel Issachar. Ich bin der Esel von Mirjam und Josef und Joschua. Das ist genug. Schlaf gut, Kamel."
„Gute Nacht, Issachar".
erzählt von Peter Wünsche
Ein alter Esel
"He, was machst du da? Wer bist du eigentlich und wo kommst du so plötzlich her? Wer hat dich hereingelassen? Was fällt dir ein, meinen Stall zu betreten? Das ist ja der Gipfel!" Das Kamel war wirklich außer sich. Es streckte die Nase in die Höhe, schüttelte den Kopf, holte kräftig Luft und wieherte dann mit ganzer Kraft: "RAUS HIER!"
"Ganz cool bleiben!" sagte der Esel. "Was willst du eigentlich: Soll ich gehen, oder soll ich dir deine Fragen beantworten? Beides zugleich geht nicht."
"Zuerst die Fragen und dann raus", sagte das Kamel. "Ich kann Esel nicht ausstehen."
"Wir werden ja sehen." Den Esel schien nichts aus der Ruhe zu bringen. "Also schön langsam eine Frage nach der anderen: Ich bin ein alter Esel. Ich komme aus Judäa. Und dein Herr hat meinem Herrn erlaubt, dass ich heute Nacht hier bleibe. Du wirst es schon ein paar Stunden mit mir aushalten müssen. Heute ist das sozusagen nicht dein Stall, heute Nacht ist das unser Stall."
"Eine Zumutung ist das. Mein Herr lässt doch auch kein Schwein in sein Schlafzimmer. Und ich soll mir meinen Stall mit einem Esel teilen?"
"Der Vergleich geht nicht auf. Schweine stinken, Esel nicht."
"Aber Esel sind doof!"
"Und Kamele sind ziemlich eingebildet. Bei uns daheim ist übrigens 'du Kamel' ein Schimpfwort für die ganz Doofen."
In seiner Würde schwer gekränkt, gab das Kamel keine Antwort. Als sie so eine Viertelstunde nebeneinander hergeschwiegen hatten, in der das Kamel einsah, dass es an seiner Lage jetzt nichts ändern konnte, siegte doch wieder die Neugier. "Aus Judäa bist du? Wie kommst du dann hierher nach Ägypten?"
"Das ist eine lange Geschichte."
"Wir haben ja jetzt Zeit. Also erzähl schon." Und insgeheim dachte das Kamel: 'Wenn ich es schon mit einem Esel aushalten muss, dann kann er mir wenigstens die Langeweile vertreiben.'
"Also gut, dann fange ich mal ganz am Anfang an."
"Wo denn sonst?"
"Eben. Also, geboren wurde ich vor 16 Jahren auf der Eselsfarm von Kisch. Schön war es da. Das Futter war reichlich, und wir jungen Esel spielten den ganzen Tag miteinander. Natürlich fütterte uns Kisch nicht aus reiner Tierliebe. Er wollte halt, dass wir schnell stark werden und er einen guten Preis für uns erzielt. Das war uns aber egal. Hauptsache, wir konnten das Leben genießen. Aber alles Schöne ist immer so schnell vorbei. Als ich anderthalb Jahre alt war, verkaufte mich Kisch an Rufus. Der war ein Feldwebel in der römischen Armee."
"Die Römer – regieren die bei euch auch?"
"Natürlich, die regieren doch die ganze Welt. Jetzt begann für mich der Ernst des Lebens, wie das die Menschen immer sagen. Aber für einen Esel ist der Ernst des Lebens viel ernster als für Menschen, glaube ich. Rufus war nicht böse. Aber er war eben ein römischer Soldat. Hart zu sich selbst, hart zu den anderen, und besonders hart zu mir. Ich half ihm sein Haus zu bauen, ich trug seine Frau und seine Kinder und sein Gepäck, wenn er wieder einmal versetzt wurde, ich begleitete ihn als Packtier ins Manöver. Das war immer für mich das Schlimmste."
"Nicht der Krieg?"
"Den habe ich nie erlebt. Es ist doch jetzt der Römische Friede angesagt."
"Schöner Friede: Alle kuschen vor den Römern, da brauchen die gar keinen Krieg; die kriegen auch so, was sie wollen. Aber wir schweifen ab. Erzähl weiter". Fast schon bedauerte es das Kamel, dass es Interesse gezeigt hatte. Es wollte eigentlich lieber in kühler Distanz bleiben.
"Es war halt ein richtiges Eselleben. Viel Arbeit, schon genug Futter, aber meistens bloß Gras und im Winter Heu. Wenn Rufus gut gelaunt war, gab es einmal einen Krug Gerste, wenn er schlecht gelaunt war, gab es nichts. Und wenn er sehr schlecht gelaunt war, dann gab es Schläge. Leider war er ziemlich oft sehr schlecht gelaunt. – Als ich ungefähr vier Jahre alt war, begann ich mich zu wehren. Ich suchte mir die Rolle 'störrischer Esel' aus."
"Was gibt's da auszusuchen? Ihr Esel seid doch alle störrisch."
"Typisch Kamel: gescheit tun, aber keine Ahnung. Wir Esel sind nicht von Natur aus störrisch. Es ist eben unsere Art, sich zu wehren. Zwischen Rufus und mir wurde das so ein richtiger Kleinkrieg. Wenn ich nicht so wollte wie er, dann schlug er zu. Wenn er schlug, dann wollte ich erst recht nicht mehr. Dann schlug er kräftiger. Da wurde ich noch bockiger. Das ging so lange, bis einer nachgab."
"Der Klügere gibt nach."
"Das sagen die Menschen, aber das stimmt auch nicht immer. Wenn Nachgeben ein Zeichen von Klugheit ist, dann müsste ich ja das reinste Superhirn sein. Aber ich gab meistens nur wegen der Schmerzen nach. Das Spiel wiederholte sich fast jeden Tag von neuem, er schlug und ich bockte. Dem Rufus schrieen sie schließlich nach: 'Ist denn dein Esel aus Holz?' Einer sagte einmal: 'Mach doch deinem Esel Räder, dann kannst durch ihn ja als Spielzeugtier hinter dir herziehen.' Rufus war stadtbekannt für seinen störrischen Esel. Aber Rufus konnte sich keinen anderen Esel leisten und schon gar kein Pferd oder gar ein Kamel. Er musste mich behalten."
"Dein Pech", warf das Kamel ein.
"Sein Pech aber auch", sagte der Esel. "Fast vierzehn Jahre war ich im Dienst von Rufus. Arbeiten, fressen, schlafen, manchmal Schläge: ein richtiges Eselleben eben. Ich glaube, den meisten von uns geht es nicht besser. Und ich dachte, das ist eben unser Esellos – bis dann der Tag kam, der alles änderte."
"Aha", witzelte das Kamel, "da kam die gute Fee und kaufte dich frei."
"Nicht im Geringsten. Der Tag fing schon schlecht an. Nur ein Büschel halbfaules Heu zum Frühstück. Dann ging es auf den Markt. Es roch dort wunderbar, aber niemand gab mir auch nur eine Rübe. Rufus lud mir einen Korb Fische und einen Korb Feigen auf. Daheim stellt er die Körbe neben mir ab. Den Korb mit den Fischen trug er zuerst ins Haus. Das war sein Fehler."
"Wieso?"
"Kannst du dir doch denken. Eigentlich wollte ich nur eine Feige aus dem anderen Korb naschen. Aber die schmeckte so süß. Also genehmigte ich mir eine zweite und dann noch eine dritte. Nach der fünften dachte ich mir: 'Jetzt merkt er es bestimmt. Dann ist eh schon alles egal.' Als Rufus wieder nach draußen kam, war der Korb leer – das heißt nein, zwei Feigen waren noch drin, aber die waren schon ein bisschen schimmelig, die mochte ich auch nicht."
"Sehr witzig!"
"Gar nicht witzig. Rufus wurde erst bleich und dann knallrot. Er zog seinen Stock und schlug zu. Zum ersten Mal nicht auf mein Hinterteil, sondern auf meinen Kopf. Er schlug nicht einmal oder zweimal, er hörte gar nicht mehr auf. In meiner Not tat ich dann auch etwas, was ich noch nie getan hatte: Ich biss zu, nicht allzu fest, aber sein Unterarm war schon ein bisschen blutig."
"Ein bisschen?"
"Kann schon sein, dass er ein bisschen sehr blutig war. Verblutet ist Rufus jedenfalls nicht. Aber seine Wut war jetzt endlos und gab ihm die Kraft, noch mehr zuzuschlagen. Ich brach zusammen. Er ließ mich auf der Straße liegen. Er meinte wohl, er hätte mich erschlagen."
"Dann hätte ich jetzt meinen Stall für mich", raunzte das Kamel, aber es war nicht ganz ernst gemeint.
"Die Nacht kam, und in der Kühle erholte ich mich ein bisschen. Ich wachte mit furchtbaren Kopfschmerzen auf. Vorsichtig stand ich auf, und dann lief ich weg. Ich lief die ganze Nacht durch, den ganzen nächsten Tag und noch eine Nacht. Dann konnte ich nicht mehr. Der Wirt Onophilos fand mich. Er brachte mich in seinen Stall. Er pflegte mich. Er gab mir zu fressen. Mit mir ging es schnell wieder aufwärts. 'Es gibt eben doch auch gute Menschen', dachte ich. Aber im Stall neben mir stand ein Ochse. Der verriet mir, dass Onophilos bei den Menschen als hervorragender Wirt bekannt war, berühmt wegen seiner guten Rinder- und Eselssteaks. Da war mir klar, warum mich Onophilos so gut pflegte."
"Igitt – Eselsbraten!" Das Kamel rümpfte die Nase.
"Viele mögen das nicht, die Juden dürfen gar nicht, aber für manche andere ist das eine Delikatesse. Ich war vom Regen in die Traufe gekommen. Ich sah mich schon am Spieß gegrillt. Aber wie du siehst, ich lebe."
"Bist du wieder geflohen?"
"Das ging bei Onophilos nicht, er benutzte feste Ketten im Stall. Es kam ganz anders. Eines Tages war in der Stadt unheimlich viel los. Ich sah es durch das Stallfenster. Menschen kamen aus der Umgebung und von weit her, Reiche, Arme, Junge, Alte, Gesunde und sogar Kranke mit Krücken und Bahren. Es war ein Riesengewühl. Alle wollten in der Stadt bleiben. Irgendwie hatte es wieder so einen seltsamen Befehl von den Römern gegeben. Die hatten wohl gemerkt, dass sie mit der Steuer angeschmiert wurden. Und jetzt wollten sie genau wissen, wie viele Leute es eigentlich in ihrem Reich gab. Alle mussten in ihre Heimatstadt, um sich alle am selben Tag in irgendwelche Listen einzutragen. Dass das im Chaos enden musste, war klar. Den Römern war das egal. Ich glaube, die spinnen, die Römer. Jedenfalls kamen am Abend zwei junge Leute in den Stall. Ihre Reise war ein bisschen langsamer gegangen. Die Frau wartete jeden Augenblick auf ein Kind, und so mussten sie sich Zeit lassen, kamen spät in der Stadt an, und da waren alle Wirtshäuser schon voll."
"Sag bloß, die hat ihr Kind im Stall gekriegt?"
"Genau so war es. Der Mann wollte noch Hilfe holen. Aber es war schon zu spät. 'Bleib bitte bei mir', sagte sie noch, 'das geht schon so.' Das Nächste, was ich hörte, war das Schreien eines Kindes. Es war da. Es fror und es zitterte. Ein paar Windeln hatten die beiden schon mitgebracht, ein paar Decken fanden sich auch in einer Stallecke. Aber dann wollte die Frau schlafen. Sie war total fertig von der Reise und von der Geburt. Aber was wird derweil mit dem Kind? Der Fußboden war kalt, ein Bett war natürlich nicht da. Ich begriff, worum die zwei sich Sorgen machten. Ich habe ja die Sprache der Menschen einigermaßen verstehen gelernt, bloß sprechen kann ich nicht. Und mir kam eine Idee: Auffällig schnaubte ich und leckte die letzten Gerstenkörner aus der Futterkrippe, die vor mir stand. Ganz sauber machte ich den Trog. Dann ging ich einen Schritt zurück, scharrte mit den Hufen, nickte ein paar Mal mit dem Kopf in Richtung Krippe und rief einmal kräftig 'I-A'. Die Frau und der Mann dachten sich wohl zuerst: 'Jetzt ist der Esel verrückt geworden.' Aber dann begriffen sie, sahen sich an, lachten einander zu, lachten zu mir hin, legten zwei Bündel Stroh in die Krippe und das Kind darauf und deckten es gut zu. Ja, das mit der Krippe war meine Idee."
"Schlaues Kerlchen!" sagte das Kamel ironisch, aber ein bisschen Bewunderung schwang schon auch in der Stimme mit.
"Sag ich doch. Wir Esel sind gar nicht so dumm. Zum Schlafen kamen die beiden Erwachsenen übrigens erst viel später. Ständig kam Besuch, der das Kind im Futtertrog sehen wollte. Keine Ahnung, woher die das wussten. Und als die Frau und der Mann sich dann am Morgen todmüde hinlegten, da hielt ich Wache, abwechselnd mit dem Ochsen. Wenn dem Kind jemand hätte etwas tun wollen – ich hätte ihn schlimmer zugerichtet als Rufus."
"Das glaube ich dir sofort, Beißerchen" sagte das Kamel.
Der Esel ließ sich nicht ärgern. "Ein paar Tage ging das so. Es war schön und friedlich mit den anderen im Stall. Ich vergaß fast, dass auf mich die Bratpfanne wartete. Es hätte ruhig endlos so weiter gehen können. Aber es kam wieder anders. Eines Morgens weckten mich laute Stimmen. Die eine gehörte Onophilos. Die andere gehörte dem Metzger – nein, gar nicht wahr. Die gehörte dem jungen Vater. Der verhandelte mit dem Wirt. Ich begriff: Er wollte mich kaufen. Der Wirt wollte mich nicht hergeben. Aber der junge Mann kratzte all sein Geld zusammen und bot es dem Wirt. Ich merkte: Der Mann war unheimlich unter Druck und brauchte unbedingt ganz schnell einen Esel. Onophilos bekam am Ende einen unverschämten Preis und gab mich her."
"Und weiter?"
" 'So, du bist jetzt unser Esel', sagte die Frau zu mir. Ich bin Mirjam, das dort ist Josef Bar Jaakov, das Kind heißt Joschua und dich werde ich Issachar nennen.' Ein Name für mich – das war etwas Neues. Bei Rufus war ich immer nur "der Esel" oder "das Vieh", je nachdem, wie seine Laune war, und natürlich hatte mir auch Onophilos keinen Namen gegeben."
"Issachar, das klingt aber komisch."
"Passt schon, ich finde den Namen schön. Klingt ein bisschen wie ein Eselsschrei. Aber Mirjam sagte dann zu mir: 'Issachar, du musst uns helfen. Wir müssen fliehen, weit weg nach Ägypten. Jetzt müssen wir uns ganz auf dich verlassen können.' Dann ging alles ganz schnell. Im Nu war gepackt, viel hatten die drei nicht, und wir zogen los nach Süden. Ach, übrigens: Der Ochse ist auch nicht geschlachtet worden, aber das ist eine andere Geschichte, die erzähle ich dir morgen."
"Was, bist du morgen auch noch da?", fragte das Kamel, aber sein Entsetzen war nur noch gespielt.
"Wer weiß das schon. Nach den Wochen, die ich hinter mir habe, halte ich alles für möglich. Was nämlich dann kam, war furchtbar: Wir gingen manchmal dreißig Meilen an einem Tag. Es gab ständig Gerüchte, dass uns Soldaten auflauerten. In der Wüste bin ich – nein: sind wir fast verdurstet. Einmal gerieten wir in einen Hinterhalt von Straßenräubern, die Josef und Mirjam nur noch die Kleider am Leib ließen. Einmal gab es zwei Tage nichts zu essen und nichts zu fressen. Im Sinai mussten wir über die Berge, weil die Täler zu gefährlich waren. Bei der Überfahrt über den Nil schließlich kenterte die überfüllte Fähre, zu unserm Glück kurz vor dem Ufer. Damals bei Rufus war es anstrengend. Das hier aber, diese Flucht war die reinste Schufterei, nicht zu vergleichen. In dem Vierteljahr war ich öfter völlig fertig als in den vierzehn Jahren bei Rufus. Aber das war nur die eine Seite."
"Und die andere?"
"Das waren die drei Menschen, die mit mir unterwegs waren. Die weinten oft und schimpften manchmal, wie andere auch. Aber ich hatte das Gefühl, sie wussten sich trotz allem sicher. Sie vertrauen einem Unsichtbaren, den sie Gott nennen. Davon verstehen wir Tiere nicht viel. Aber wenn ich am Ende meiner Kräfte war, dann redeten sie mir gut zu und ließen das Kind meine Mähne streicheln. Da fühlte ich eine starke Kraft, die von dieser Hand ausgeht, und dann konnte ich doch irgendwie weiter. Ich glaube, Joschua ist ein ganz besonderes Kind. – Jetzt sind wir hier, in Ägypten. Hier werden die Mutter und das Kind übrigens mit ihren griechischen Namen genannt: Aus der Mirjam wurde eine Maria und aus dem Joschua ein Jesus. Ein bisschen Tarnung ist in dieser Lage vielleicht gar nicht schlecht."
"Und wie geht es jetzt weiter mit euch?" Zum ersten Mal fragte das Kamel wirklich mitfühlend.
"Was morgen wird, weiß ich nicht. Die drei werden wohl einige Zeit hier bleiben müssen. Josef wird hier Arbeit finden oder auch nicht. Er ist Zimmermann. Bauhandwerker werden gebraucht – aber ausländische und gar jüdische Bauhandwerker nicht so sehr. Mal sehen. In meine Heimat komme ich sicher nie mehr zurück. Für so eine weite Reise bin ich in ein paar Jahren zu alt, das weiß ich. Aber das ist jetzt egal. Ich habe sie hergebracht. Ich habe mein Teil beigetragen, dass Joschua lebt. Ich habe einmal etwas Wichtiges getan. Ich bin ein anderer Esel geworden. Ich bin nicht mehr das störrische Vieh von Rufus. Ich bin der alte Esel Issachar. Ich bin der Esel von Mirjam und Josef und Joschua. Das ist genug. Schlaf gut, Kamel."
„Gute Nacht, Issachar".
erzählt von Peter Wünsche
1. Mit Ernst, o Menschenkinder, / das Herz in euch bestellt; / bald wird das Heil der Sünder, / der wunderstarke Held, / den Gott aus Gnad allein / der Welt zum Licht und Leben / versprochen hat zu geben, / bei allen kehren ein.
2. Bereitet doch fein tüchtig / den Weg dem großen Gast; / macht seine Steige richtig, / laßt alles, was er haßt; / macht alle Bahnen recht, / die Tal laßt sein erhöhet, / macht niedrig, was hoch stehet, / was krumm ist, gleich und schlicht.
Jesaja 40,3.4
3. Ein Herz, das Demut liebet, / bei Gott am höchsten steht; / ein Herz, das Hochmut übet, / mit Angst zugrunde geht; / ein Herz, das richtig ist / und folget Gottes Leiten, / das kann sich recht bereiten, / zu dem kommt Jesus Christ.
4. Ach mache du mich Armen / zu dieser heilgen Zeit / aus Güte und Erbarmen, / Herr Jesu, selbst bereit. / Zieh in mein Herz hinein / vom Stall und von der Krippen, / so werden Herz und Lippen / dir allzeit dankbar sein. EG 10
Ein Stern
Gethaspa schaute zum Himmel. Das tat er Tag für Tag, denn das gehörte zu seinen Aufgaben. Er schaute zum Himmel und konnte ihn lesen wie ein Buch. Viele Jahre täglicher Übung hatten ihn verständig werden lassen. Jetzt war er ein Mann von etwa 50 Jahren, galt als erfahren, galt gar als weise. Er gehörte zu den obersten Hofbeamten, trug mit Stolz den Titel Magus – war Priester und Wissenschaftler, Zukunftsdeuter und Ratgeber zugleich. Aber noch war er nicht so alt, dass er nicht noch nach Neuem gesucht hätte. Er tat seinen Dienst mit Eifer und Zuverlässigkeit, und er wurde gut bezahlt. Aber manchmal beschlich ihn das Gefühl: Das kann noch nicht alles gewesen sein.
Gethaspa las am Himmel ab, was für sein Volk wichtig war. Er hatte gelernt, aus der Form der Wolken und ihrem Dahinziehen das Wetter einzuschätzen. Er beriet den König, wann es Zeit war, die Aussaat anzuordnen und die Ernte. Er hatte gelernt, aus dem Flug der Vögel gute und böse Vorzeichen zu entnehmen. Und er hatte seine Leidenschaft für den nächtlichen Himmel entdeckt. Die Sterne waren für ihn wie gute Bekannte. Er wusste, dass da ungefähr 2000 Sterne am Nachthimmel sichtbar waren. Die größeren von ihnen trugen Namen, seltsame Namen wie Mizar und Beteigeuze, Alnitak und Mintaka. Aber Gethaspa hatte in ungezählten Nächten auch den kleineren Sternen Namen gegeben, jeden der 2000 Sterne kannte er wie einen Freund.
Doch die Sterne blieben geheimnisvoll und rätselhaft. Er wusste, dass sie meist schwiegen. Die Fixsterne nahmen Tag für Tag dieselbe Bahn. Die sieben Planeten zogen am Himmel seltsame Schleifen, aber Gethaspa hatte gelernt, ihren komplizierten Lauf zu berechnen – da gab es keine Überraschungen mehr. Nur ganz selten tat sich etwas wirklich Neues am Himmel, mit dem er nicht gerechnet hatte. Da trat ein Komet auf wie aus dem Nichts, leuchtete für ein paar Wochen hell vom Himmel und verschwand wieder. Nur dreimal in seinem Leben hatte er einen Kometen beobachten können. Und ganz selten wurde ein neuer Stern sichtbar, der dauerhaft blieb. Das kannte er aber nur aus den Erzählungen der Alten.
Gethaspa schaute zum Himmel. Etwas war anders als sonst. Das beunruhigte ihn. Er ging im Geist die Liste der Sterne durch, die in seinem Gedächtnis tief eingeprägt war. Aber da war heute ein Stern am Himmel, für den er keinen Namen hatte. Er stand im Sternbild Stier, nahe dem hellen Aldebaran. Er war nicht besonders groß oder auffällig. Aber für einen Weisen und Kenner wie Gethaspa war er nicht zu übersehen. Er blieb bis lange wach, der Stern war weiter da und auch in der nächsten und der übernächsten Nacht.
Gethaspa war verunsichert. Es zog alle Sternkarten zu Rate, die er in der großen Bibliothek fand. Aber auf keiner war der Stern eingezeichnet. Er hatte sich nicht getäuscht. Da war ein neuer Stern, zum ersten Mal in seinem Sterndeuterleben hatte er so etwas beobachtet. Und er stellte sich die nächste Frage: Was hatte das zu bedeuten?
Er verbrachte in den nächsten Tagen jede freie Minute in der Bibliothek, um auf seine Frage eine Antwort zu finden. Aber da neue Sterne etwas so sehr Seltenes waren, gaben ihm die Bücher dabei kaum Hilfe. Vieles musste er sich selbst zusammenreimen. Er bekam heraus: Das Sternbild Stier deutete auf das Land Palästina, wo man früher der stiergestaltigen Gott Baal verehrt hatte. Der neue Stern stand wohl für eine Geburt eines Königs – aber nicht irgendeines Königs, sondern eines besonderen Menschen, der für die ganze Welt von Bedeutung war. Ein Mensch war da geboren, der eine einmalige Beziehung zu hatte einem Gott – oder zu dem einen Gott.
Das reimte sich Gethaspa zusammen. Es war nicht viel. Aber es war für ihn wie eine Erleuchtung: Hier ist vielleicht der neue Herr der Welt geboren. Ich habe seinen Stern entdeckt. Ich will unter den ersten sein, die ihm die Ehre erweisen. Nie mehr in meinem Leben wird diese Chance kommen. Nie mehr werde ich Gott so nahe kommen. Ich muss aufbrechen. Das ist mein Stern. Das ist mein König. Da ist vielleicht sogar mein Gott. Ich muss eine Reise machen.
Zweifel kamen, als er von der Sache den anderen Sterndeutern erzählte. Keiner teilte seine Begeisterung.
Einer sagte: „Ein neuer Stern – das glaube ich nicht. Ich sehe da bloß einen Stern unter andern. Vielleicht sind aber bloß unsere Karten falsch. Sie sind ja schon uralt.“
Ein anderer sagte: „Ja, ich sehe den Stern auch. Deine Deutung ist vielleicht richtig, aber vielleicht auch ganz irrig. Willst du eine lange Reise machen und am Ende feststellen, dass sie umsonst war?“
Einer weigerte sich, den Stern zu sehen. „Da ist gar nichts“, sagte er gegen den Augenschein.
Ein anderer sagte: „Ich teile deine Deutung des neuen Sterns. Aber eine so weite Reise – das wäre mir zu anstrengend und zu teuer und vor allem zu gefährlich. Ich ginge ein solches Risiko nicht ein.
Einer der Klügsten sagte: „Palästina, da herrscht doch dieser Herodes. Der nennt sich nur König, der hat gar nichts zu sagen ohne die Römer; die dulden ihn nur. Wenn der einen Sohn hat, dann wird der bestimmt nicht der Herr der Welt.“
Gethaspa war sich nicht mehr so sicher. Dennoch beschloss er, zu seinem Herrn zu gehen und um Urlaub zu bitten. Dem König gefiel gar nicht, was Gethaspa wollte. Er wollte nicht den wertvollsten seiner Berater einfach ziehen lassen. Und er setzte ihn unter Druck: „Ich muss mich wundern. Ich dachte, du stehst zu mir. Und jetzt willst du einem fremden Königssohn huldigen? Was ist mit deiner Loyalität?“ Zumindest sagte er kein klares Nein und gab Gethaspa die Möglichkeit, sein Ansinnen bis zum nächsten Tag zu überdenken.
In der nächsten Nacht ging Gethaspa nicht schlafen. Solang der neue Stern am Himmel stand, blickte er nach oben, unsicher, was er tun sollte. Der Himmel schwieg, der Stern schwieg. Als Mitternacht längst vorüber war, wollte er dann doch noch etwas ruhen.
Aber was war das? War er in seinem Beobachtungsstuhl kurz eingeschlafen und hatte geträumt? Hatten seine übermüdeten Augen gezittert, so dass der Himmel sich zu bewegen schien? Oder hatte sich der Stern wirklich bewegt? Aber es war für ihn ganz klar zu sehen gewesen. Er hatte sich bewegt in einigen kurzen Zügen, wie Buchstaben. Es waren die Buchstaben des persischen Wortes „komm“. Ja, das war die Botschaft; Traum oder Sinnestäuschung oder Wirklichkeit, das war jetzt ganz gleich. „Komm“ – das war kein Befehl. „Komm“, das war eine Einladung, ein Locken, eine Herausforderung.
Gethaspa ging zum König. Er bat nochmals um den Urlaub, nun ganz selbstsicher, und wegen seiner Verdienste bekam er ein halbes Jahr frei für seine Reise. Als Huldigungsgabe nahm er eine ganze Kamelladung Weihrauch mit – auch für ihn als hohen königlichen Hofbeamten ein kleines Vermögen. Aber für einen göttlichen König erschien ihm genau das angemessen. Er stieg auf sein Kamel, zog mit drei Dienern nach Westen und wusste: Das ist jetzt mein Weg. Das ist jetzt mein Leben.
Unterwegs traf er zwei andere Sterndeuter, Magier wie er, aus den Nachbarländern. Der alte, fromme Melichior zog mit großem Gefolge, wurde selbst sogar von einem Elefanten getragen. Der junge, abenteuerlustige Bithisarea war ganz allein unterwegs auf einem schwarzen Pferd. Das Zusammentreffen war für Gethaspa die letzte Bestätigung – aber sie war eigentlich gar nicht mehr nötig.
Wie die Geschichte weitergeht, hat Matthäus aufgeschrieben, das ist bekannt, das muss ich hier nicht weiterspinnen. Aus dem Namen Gethaspa wurde im Lauf der Überlieferung Kaspar, aus Bithisarea wurde Balthasar, und Melichior verlor ein „i“ in seinem Namen. Kaspar, Melchior und Balthasar, so kennt sie heute jedes Kind. Drei Männer, die eine weite Reise machten.
So könnte es gewesen sein. Vielleicht war es auch ganz anders. In einem äußeren Sinn ist die Geschichte vielleicht wahr oder auch nur erfunden. Wahr ist aber eines: Immer wieder finden Menschen ihren Stern. Immer wieder finden Menschen Herausforderungen, die genau die Ihre sind. Immer wieder gehen Menschen neue Wege. Immer wieder stoßen sie auf Unverständnis.
Manche gehen los und kehren schnell wieder um. Manche gehen los und kommen nie an und spüren doch, dass der Weg nötig war. Manche gehen los und kommen anderswo an, als sie planten. Und so erfahren sie, dass allein Gott lenkt. Gethaspa und die anderen Magier aus dem Osten fanden das Kind nicht im Palast bei Herodes in Jerusalem, sondern im kleinen Bethlehem, als Sohn eines Zimmermanns und seiner Frau. Und auf einem anderen Weg kehrten sie zurück, reich und verwandelt.
erzäklt von Peter Wünsche
1. Nun jauchzet, all ihr Frommen, / zu dieser Gnadenzeit, / weil unser Heil ist kommen, / der Herr der Herrlichkeit, / zwar ohne stolze Pracht, / doch mächtig, zu verheeren / und
2. Er kommt zu uns geritten / auf einem Eselein* / und stellt sich in die Mitten / für uns zum Opfer ein. / Er bringt kein zeitlich Gut, / er will allein erwerben / durch seinen Tod und Sterben, / was ewig währen tut.
3. Kein Zepter, keine Krone / sucht er auf dieser Welt; / im hohen Himmelsthrone / ist ihm sein Reich bestellt. / Er will hier seine Macht / und Majestät verhüllen, / bis er des Vaters Willen / im Leiden hat vollbracht.
4. Ihr Mächtigen auf Erden, / nehmt diesen König an, / wollt ihr beraten werden / und gehn die rechte Bahn, / die zu dem Himmel führt; / sonst, wo ihr ihn verachtet / und nur nach Hoheit trachtet, / des Höchsten Zorn euch rührt.
5. Ihr Armen und Elenden / zu dieser bösen Zeit, / die ihr an allen Enden / müßt haben Angst und Leid, / seid dennoch wohlgemut, / laßt eure Lieder klingen, / dem König Lob zu singen, / der ist eu'r höchstes Gut.
6. Er wird nun bald erscheinen / in seiner Herrlichkeit / und all eu'r Klag und Weinen / verwandeln ganz in Freud. / Er ist's, der helfen kann; / halt' eure Lampen fertig / und seid stets sein gewärtig, / er ist schon auf der Bahn. EG 9
Der Fahnder
Der Fahnder
„Weihnachtskontrolle“ rief der Fahnder laut, als er den Spielzeugladen betrat. Je fester sein Auftreten war, desto weniger Schwierigkeiten machten ihm die Leute. Er machte den Job jetzt seit zwölf Jahren, da hatte er einiges an Berufserfahrung gesammelt. Die meisten Leute mochten ihn sowieso nicht, und so war es ihm ganz recht, wenn sie ihn auch ein bisschen fürchteten.
„Bin ja schon da!“, sagte die Spielzeughändlerin und setzte gleich dazu: „Nichts zu machen, bei mir ist alles ordentlich angemeldet.“
„Wir werden ja sehen“, gab der Fahnder zurück. Er klappte seinen tragbaren Computer auf, holte mit ein paar Tastendrucken das Formular des Spielzeuggeschäfts auf den Bildschirm. „Also gut. Sie haben angemeldet: drei künstliche Weihnachtbäume im Laden, einen echten Baum mit 36 Lichtern vor dem Laden, eine Weihnachtmannfigur im Schaufenster, sieben kleine Dekorations-Weihnachtsmänner in den Regalen. Die Gebühren sind gezahlt.“ Der Fahnder zählte nach. „Stimmt alles.“
Die Spielzeughändlerin lächelte erleichtert. Aber der Fahnder schaute sich noch etwas im Laden um. Da sah er noch fünf Räuchermänner, die ebenfalls deutlich als Weihnachtsmänner gekleidet waren. Er zeigte auf sie: „Und was ist mit denen? Die sind nicht angemeldet.“
„Die sind gebührenfrei. Die haben doch die Marke.“
„Davon sehe ich aber nichts.“
„Doch, drehen sie die Figuren bloß um.“
Der Fahnder nahm eine Figur in die Hand. Tatsächlich, hinten auf dem Mantel des hölzernen Weihnachtmanns standen deutlich die zwei geforderten Worte, weiß auf rot in der richtigen Schrift.
„Das geht so nicht. Die Bestimmungen sagen: Die Marke muss deutlich sichtbar auf dem Gegenstand angebracht sein.“
„Aber sie ist doch deutlich sichtbar.“
„Ja, aber nur wenn ich die Figur umdrehe. Das genügt nicht. Ohne die sichtbare Marke ist die Abgabe fällig, in diesem Fall der dreifache Betrag plus 2000 Euro Bearbeitungsgebühr.“
„Damit geht ja ein großer Teil meines Weihnachtsgeschäftes für Gebühren drauf. Kann man da gar nichts machen?“ Die Selbstsicherheit der Spielzeughändlerin war dahin.
„Ich bin ja kein Unmensch. Ich lasse das Ganze noch einmal als Grenzfall durchgehen. Sie zahlen 200 Euro Verwarnungsgebühr und verpflichten sich, die Weihnachtsmänner so aufzustellen, dass die Marke richtig zu lesen ist. Im nächsten Jahr steht die Marke entweder vorne auf den Figuren, oder sie werden angemeldet – ist das klar?“
„Ja, schon gut.“
Die Spielzughändlerin musste untätig zusehen, wie der Fahnder die 200 Euro von ihrem Konto abbuchte, dann musste sie noch unterschreiben. Sie setzte ihren Namen unter den Ort und das Datum: Bamberg, den 5. Dezember 2299.
„So, das war’s. Schöne Weihnachten noch!“
„Sie erwarten jetzt aber nicht, dass ich ‚Auf Wiedersehen’ sage.“
Die Spielzeughändlerin ärgerte sich. Es war fast jedes Jahr dasselbe: Sie bemühte sich, alle Vorschriften einzuhalten. Aber die wurden immer komplizierter und spitzfindiger, und so fanden die Fahnder fast jedes Jahr irgend etwas auszusetzen. Eigentlich machte Weihnachten so keinen richtigen Spaß mehr.
***
Der Fahnder ging weiter durch die Geschäfte der Stadt. In manchen war alles in Ordnung. Manche Inhaber musste er verwarnen. Bei einigen musste er große Summen kassieren. Einer weigerte sich zu zahlen. Es blieb dem Fahnder nichts anderes übrig, als die Polizei zu rufen und den Mann festnehmen zu lassen. Der hatte tatsächlich gemeint, er könnte mit zwanzig geschmückten Bäumen ohne Marke den Gebühren entgehen.
Es wurde langsam Abend und dunkel und kühl. „Genug für heute“, sagte sich der Fahnder. Und er machte sich auf den Heimweg. Jetzt nach Dienstschluss konnte er die weihnachtlich geschmückte Stadt genießen. Es war schon irgendwie eindrucksvoll. Überall standen die Figuren der großen Weihnachtsmänner. Natürlich waren sie alle mit den zwei weißen Worten auf rotem Grund gekennzeichnet. Ein überlebensgroßer Weihnachtsmann ohne die Marke würde ein Vermögen an Gebühren kosten. Die Lampen von den Girlanden blinkten rot und weiß. Hoch über der Stadt kreiste gemächlich ein weiß-rotes Luftschiff. Als er auf den Marktplatz kam, hatte er Glück. Gerade fuhr feierlich und langsam einer der großen roten Sattelschlepper auf den Platz. Tausende von Lampen erleuchteten den Lastwagen. An seinen Seiten prangten übergroß die zwei Worte, die heutzutage jedes Kind mit Weihnachten in Verbindung brachte.
Der Fahnder hatte selbst hatte als kleiner Junge immer wieder davon geträumt, einmal einen solchen Weihnachtstruck zu steuern. Und er wusste, dass es für seinen Sohn jedes Jahr das Höchste war, einer ganzen Kolonne von diesen Trucks zu begegnen. Dann erst war wirklich Weihnachten.
Der Sattelschlepper war mitten auf dem Marktplatz zum Stehen gekommen. Die Rückwand des Auflegers öffnete sich, ein Weihnachtsmann kam heraus, und ihm folgten viele Helfer: Feen, Elfen, Mickey-Mäuse, Dagobert, Donald und Daisy Duck, Frösche und Marienkäfer, Außerirdische der verschiedensten Form, alle möglichen Gestalten aus den alten und neuen Trickfilmen. Die Kinder, die den Truck erwartet hatten, jubelten und kreischten. Der Weihnachtsmann und die Helfer begannen, kleine Geschenke auszuteilen, vor allem natürlich die Flaschen mit dem braunen Getränk, das Getränk mit dem Namen, der untrennbar mit Weihnachten verbunden war, mit dem Namen aus zwei Worten, in weißer Schrift aus rotem Grund. In manchen Flaschen befand sich allerdings keine braune Brause, sondern ein Gutschein für eine Reise oder ein teures Spielzeug. Jeder hoffte natürlich, eine solche Glücksflasche zu ergattern. Aus dem Lautsprecher tönte „Jingle Bells“ und „Fröhliche Weihnacht überall.“
***
War das nun fröhlich? Der Fahnder spürte ein Unwohlsein in sich aufsteigen. Es war seltsam: Er arbeitete für die Getränkefirma, die Weihnachten erfunden hatte. Er trieb die Gebühren ein von Leuten, die weihnachtliche Symbole verwenden wollten, ohne gleichzeitig Werbung für die Firma zu machen. Er lebte von Weihnachten, es war sein Job. Aber von Jahr zu Jahr konnte er sich weniger daran freuen. Es blieb in ihm ein Gefühl von Leere. Das alles wurde ihm immer fragwürdiger.
Er fühlte: Ich muss hier weg. Er wollte vor dem Heimgehen noch ein bisschen Ruhe finden und mit seinen Gedanken allein bleiben. Er nahm seinen Weg in ein stilleres Viertel der Stadt. Er überquerte den Fluss. Er spazierte langsam einen Hügel hinauf. Das Museum für mittelalterliche Kunst mit seinen vier hohen Türmen lag würdevoll da. Schon lange wollte er einmal das Museum besuchen, aber jetzt am Abend hatte es schon geschlossen, und ihm war ohnehin nicht nach Kunst zumute. In den alten Gassen hinter dem großen Museum war es endlich wirklich ruhig.
Er ging durch die Gassen und genoss die Stille. Musik riss ihn aus seinen Gedanken. Musik, die er noch nie gehört hatte. Da schienen doch tatsächlich einige Leute selbst zu singen, ganz ohne Elektronik. Das hatte er schon lange nicht mehr erlebt.
Er ging dem Klang nach und kam an ein altes Gebäude mit einem kleinen Türmchen. Die Tür stand einen Spalt offen. Der Gesang drang durch diesen Spalt nach draußen. Neugierig zog er die Tür ein wenig auf. Da saßen in einem kleinen Saal etwa drei Dutzend Menschen, Männer und Frauen, ältere und jüngere, auch ein paar Kinder. Sie sangen tatsächlich. Er verstand nicht ganz, was da gesungen wurde. Der Text des Liedes sprach von einer offenen Tür, von einem Retter und Helfer, von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Er konnte sich keinen rechten Reim darauf machen.
Aber diese Leute machten ihn neugierig. Er zog die Tür ganz auf und stellte sich hinten in den Raum, um weiter zuzuhören. Niemand schien ihn zu bemerken. Es war ziemlich dunkel. Der Raum war in eine andächtige Stimmung gehüllt. Vorne sah er ein seltsames Gebilde, einen Kranz aus Tannenzweigen mit vier richtigen Wachskerzen; zwei davon brannten, und ein beruhigendes Licht ging von ihnen aus.
Das Lied ging zu Ende und anscheinend auch diese seltsame Zusammenkunft. Denn die Leute standen auf, gaben einander die Hand und begannen, der Tür zuzustreben. Der Fahnder war neugierig geworden und war entschlossen, zu fragen, was das alles zu bedeuten hatte. Aber auch die anderen hatten ihn inzwischen gesehen. Einige von den Leuten kamen auf ihn zu und begrüßten ihn freundlich.
„Was ist das hier?“, fragte der Fahnder.
„Wir sind die Christengemeinde von Bamberg und feiern Advent“, erhielt er zur Antwort. Jetzt ging es ihm langsam auf. Von Christen hatte er schon einmal gerüchteweise etwas gehört.
„Was ist das – Advent?“, so fragte er weiter.
„Wir bereiten uns auf Weihnachten vor.“
„Was gibt es da vorzubereiten – Weihnachten ist doch schon seit dem ersten Dezember!“
„Für uns nicht. Wir feiern die Geburt von Jesus erst am fünfundzwanzigsten.“
„Geburtstag von Jesus – wie alt ist er denn?“
„Er kam vor ungefähr 2300 Jahren auf die Welt.“
„Da ist er ja schon lange tot. Und ihr feiert heute noch seinen Geburtstag?“
„Ja, weil wir glauben, dass er lebt.“
Das sind eigenartige Leute, dachte der Fahnder. Aber sie schienen es ehrlich zu meinen.
„Und warum habt ihr angefangen, ausgerechnet an Weihnachten seinen Geburtstag zu feiern?“
„Deine Frage ist falsch gestellt. Weihnachten ist, weil Jesus geboren ist.“
„Unsinn, jedes Kind weiß, dass Weihnachten das Fest von Coca Cola ist. Das ging im 20. Jahrhundert schon an. Weihnachten und Coca Cola – das ist dasselbe. Und wir sind stolz darauf.“ Der Fahnder sagte „wir“ – schließlich war es auch seine Firma. Aber er war sich dieses „Wir“ nicht mehr ganz sicher.
„Nein, das ist ein Märchen, das heute fast alle glauben. Aber es ist einfach falsch. Wir feiern Weihnachten schon viel länger. Wir sind heute nur wenige, aber es gibt uns Christen schon seit den Tagen von Jesus.“
„Behaupten kann das jeder.“
„Wir können es auch beweisen. Wir haben zum Beispiel Bücher aus einer Zeit, bevor Coca Cola gegründet wurde. Und da ist unser Weihnachtsfest schon selbstverständlich. Du kannst die Bücher gern sehen.“
Den Fahnder schwindelte. Konnte das sein: dass alles ganz anders war? Weihnachten, ein Fest dieser kleinen Gruppe von Christen? Weihnachten, gar nicht von seiner Firma erfunden? Dann hatten sie ja im Grunde gar kein Recht, Lizenzgebühren zu kassieren. Dann war letztlich sein Beruf hinfällig.
Er verabschiedete sich schnell und ging hinaus. Er musste nach Hause. Das war schon mehr, als er für heute verkraften konnte. Aber er war sich sicher: Er würde wiederkommen. Er würde weiter fahnden. Wahrscheinlich nicht mehr lange nach säumigen Gebührenzahlern. Er würde weiter suchen nach dem wahren Ursprung von Weihnachten. Er war sich sicher: Hier bei diesen Leuten war eine Spur zu finden. Und er fühlte: Heute hat etwas angefangen, möglicherweise sogar ein ganz neues Leben.
„Bin ja schon da!“, sagte die Spielzeughändlerin und setzte gleich dazu: „Nichts zu machen, bei mir ist alles ordentlich angemeldet.“
„Wir werden ja sehen“, gab der Fahnder zurück. Er klappte seinen tragbaren Computer auf, holte mit ein paar Tastendrucken das Formular des Spielzeuggeschäfts auf den Bildschirm. „Also gut. Sie haben angemeldet: drei künstliche Weihnachtbäume im Laden, einen echten Baum mit 36 Lichtern vor dem Laden, eine Weihnachtmannfigur im Schaufenster, sieben kleine Dekorations-Weihnachtsmänner in den Regalen. Die Gebühren sind gezahlt.“ Der Fahnder zählte nach. „Stimmt alles.“
Die Spielzeughändlerin lächelte erleichtert. Aber der Fahnder schaute sich noch etwas im Laden um. Da sah er noch fünf Räuchermänner, die ebenfalls deutlich als Weihnachtsmänner gekleidet waren. Er zeigte auf sie: „Und was ist mit denen? Die sind nicht angemeldet.“
„Die sind gebührenfrei. Die haben doch die Marke.“
„Davon sehe ich aber nichts.“
„Doch, drehen sie die Figuren bloß um.“
Der Fahnder nahm eine Figur in die Hand. Tatsächlich, hinten auf dem Mantel des hölzernen Weihnachtmanns standen deutlich die zwei geforderten Worte, weiß auf rot in der richtigen Schrift.
„Das geht so nicht. Die Bestimmungen sagen: Die Marke muss deutlich sichtbar auf dem Gegenstand angebracht sein.“
„Aber sie ist doch deutlich sichtbar.“
„Ja, aber nur wenn ich die Figur umdrehe. Das genügt nicht. Ohne die sichtbare Marke ist die Abgabe fällig, in diesem Fall der dreifache Betrag plus 2000 Euro Bearbeitungsgebühr.“
„Damit geht ja ein großer Teil meines Weihnachtsgeschäftes für Gebühren drauf. Kann man da gar nichts machen?“ Die Selbstsicherheit der Spielzeughändlerin war dahin.
„Ich bin ja kein Unmensch. Ich lasse das Ganze noch einmal als Grenzfall durchgehen. Sie zahlen 200 Euro Verwarnungsgebühr und verpflichten sich, die Weihnachtsmänner so aufzustellen, dass die Marke richtig zu lesen ist. Im nächsten Jahr steht die Marke entweder vorne auf den Figuren, oder sie werden angemeldet – ist das klar?“
„Ja, schon gut.“
Die Spielzughändlerin musste untätig zusehen, wie der Fahnder die 200 Euro von ihrem Konto abbuchte, dann musste sie noch unterschreiben. Sie setzte ihren Namen unter den Ort und das Datum: Bamberg, den 5. Dezember 2299.
„So, das war’s. Schöne Weihnachten noch!“
„Sie erwarten jetzt aber nicht, dass ich ‚Auf Wiedersehen’ sage.“
Die Spielzeughändlerin ärgerte sich. Es war fast jedes Jahr dasselbe: Sie bemühte sich, alle Vorschriften einzuhalten. Aber die wurden immer komplizierter und spitzfindiger, und so fanden die Fahnder fast jedes Jahr irgend etwas auszusetzen. Eigentlich machte Weihnachten so keinen richtigen Spaß mehr.
***
Der Fahnder ging weiter durch die Geschäfte der Stadt. In manchen war alles in Ordnung. Manche Inhaber musste er verwarnen. Bei einigen musste er große Summen kassieren. Einer weigerte sich zu zahlen. Es blieb dem Fahnder nichts anderes übrig, als die Polizei zu rufen und den Mann festnehmen zu lassen. Der hatte tatsächlich gemeint, er könnte mit zwanzig geschmückten Bäumen ohne Marke den Gebühren entgehen.
Es wurde langsam Abend und dunkel und kühl. „Genug für heute“, sagte sich der Fahnder. Und er machte sich auf den Heimweg. Jetzt nach Dienstschluss konnte er die weihnachtlich geschmückte Stadt genießen. Es war schon irgendwie eindrucksvoll. Überall standen die Figuren der großen Weihnachtsmänner. Natürlich waren sie alle mit den zwei weißen Worten auf rotem Grund gekennzeichnet. Ein überlebensgroßer Weihnachtsmann ohne die Marke würde ein Vermögen an Gebühren kosten. Die Lampen von den Girlanden blinkten rot und weiß. Hoch über der Stadt kreiste gemächlich ein weiß-rotes Luftschiff. Als er auf den Marktplatz kam, hatte er Glück. Gerade fuhr feierlich und langsam einer der großen roten Sattelschlepper auf den Platz. Tausende von Lampen erleuchteten den Lastwagen. An seinen Seiten prangten übergroß die zwei Worte, die heutzutage jedes Kind mit Weihnachten in Verbindung brachte.
Der Fahnder hatte selbst hatte als kleiner Junge immer wieder davon geträumt, einmal einen solchen Weihnachtstruck zu steuern. Und er wusste, dass es für seinen Sohn jedes Jahr das Höchste war, einer ganzen Kolonne von diesen Trucks zu begegnen. Dann erst war wirklich Weihnachten.
Der Sattelschlepper war mitten auf dem Marktplatz zum Stehen gekommen. Die Rückwand des Auflegers öffnete sich, ein Weihnachtsmann kam heraus, und ihm folgten viele Helfer: Feen, Elfen, Mickey-Mäuse, Dagobert, Donald und Daisy Duck, Frösche und Marienkäfer, Außerirdische der verschiedensten Form, alle möglichen Gestalten aus den alten und neuen Trickfilmen. Die Kinder, die den Truck erwartet hatten, jubelten und kreischten. Der Weihnachtsmann und die Helfer begannen, kleine Geschenke auszuteilen, vor allem natürlich die Flaschen mit dem braunen Getränk, das Getränk mit dem Namen, der untrennbar mit Weihnachten verbunden war, mit dem Namen aus zwei Worten, in weißer Schrift aus rotem Grund. In manchen Flaschen befand sich allerdings keine braune Brause, sondern ein Gutschein für eine Reise oder ein teures Spielzeug. Jeder hoffte natürlich, eine solche Glücksflasche zu ergattern. Aus dem Lautsprecher tönte „Jingle Bells“ und „Fröhliche Weihnacht überall.“
***
War das nun fröhlich? Der Fahnder spürte ein Unwohlsein in sich aufsteigen. Es war seltsam: Er arbeitete für die Getränkefirma, die Weihnachten erfunden hatte. Er trieb die Gebühren ein von Leuten, die weihnachtliche Symbole verwenden wollten, ohne gleichzeitig Werbung für die Firma zu machen. Er lebte von Weihnachten, es war sein Job. Aber von Jahr zu Jahr konnte er sich weniger daran freuen. Es blieb in ihm ein Gefühl von Leere. Das alles wurde ihm immer fragwürdiger.
Er fühlte: Ich muss hier weg. Er wollte vor dem Heimgehen noch ein bisschen Ruhe finden und mit seinen Gedanken allein bleiben. Er nahm seinen Weg in ein stilleres Viertel der Stadt. Er überquerte den Fluss. Er spazierte langsam einen Hügel hinauf. Das Museum für mittelalterliche Kunst mit seinen vier hohen Türmen lag würdevoll da. Schon lange wollte er einmal das Museum besuchen, aber jetzt am Abend hatte es schon geschlossen, und ihm war ohnehin nicht nach Kunst zumute. In den alten Gassen hinter dem großen Museum war es endlich wirklich ruhig.
Er ging durch die Gassen und genoss die Stille. Musik riss ihn aus seinen Gedanken. Musik, die er noch nie gehört hatte. Da schienen doch tatsächlich einige Leute selbst zu singen, ganz ohne Elektronik. Das hatte er schon lange nicht mehr erlebt.
Er ging dem Klang nach und kam an ein altes Gebäude mit einem kleinen Türmchen. Die Tür stand einen Spalt offen. Der Gesang drang durch diesen Spalt nach draußen. Neugierig zog er die Tür ein wenig auf. Da saßen in einem kleinen Saal etwa drei Dutzend Menschen, Männer und Frauen, ältere und jüngere, auch ein paar Kinder. Sie sangen tatsächlich. Er verstand nicht ganz, was da gesungen wurde. Der Text des Liedes sprach von einer offenen Tür, von einem Retter und Helfer, von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Er konnte sich keinen rechten Reim darauf machen.
Aber diese Leute machten ihn neugierig. Er zog die Tür ganz auf und stellte sich hinten in den Raum, um weiter zuzuhören. Niemand schien ihn zu bemerken. Es war ziemlich dunkel. Der Raum war in eine andächtige Stimmung gehüllt. Vorne sah er ein seltsames Gebilde, einen Kranz aus Tannenzweigen mit vier richtigen Wachskerzen; zwei davon brannten, und ein beruhigendes Licht ging von ihnen aus.
Das Lied ging zu Ende und anscheinend auch diese seltsame Zusammenkunft. Denn die Leute standen auf, gaben einander die Hand und begannen, der Tür zuzustreben. Der Fahnder war neugierig geworden und war entschlossen, zu fragen, was das alles zu bedeuten hatte. Aber auch die anderen hatten ihn inzwischen gesehen. Einige von den Leuten kamen auf ihn zu und begrüßten ihn freundlich.
„Was ist das hier?“, fragte der Fahnder.
„Wir sind die Christengemeinde von Bamberg und feiern Advent“, erhielt er zur Antwort. Jetzt ging es ihm langsam auf. Von Christen hatte er schon einmal gerüchteweise etwas gehört.
„Was ist das – Advent?“, so fragte er weiter.
„Wir bereiten uns auf Weihnachten vor.“
„Was gibt es da vorzubereiten – Weihnachten ist doch schon seit dem ersten Dezember!“
„Für uns nicht. Wir feiern die Geburt von Jesus erst am fünfundzwanzigsten.“
„Geburtstag von Jesus – wie alt ist er denn?“
„Er kam vor ungefähr 2300 Jahren auf die Welt.“
„Da ist er ja schon lange tot. Und ihr feiert heute noch seinen Geburtstag?“
„Ja, weil wir glauben, dass er lebt.“
Das sind eigenartige Leute, dachte der Fahnder. Aber sie schienen es ehrlich zu meinen.
„Und warum habt ihr angefangen, ausgerechnet an Weihnachten seinen Geburtstag zu feiern?“
„Deine Frage ist falsch gestellt. Weihnachten ist, weil Jesus geboren ist.“
„Unsinn, jedes Kind weiß, dass Weihnachten das Fest von Coca Cola ist. Das ging im 20. Jahrhundert schon an. Weihnachten und Coca Cola – das ist dasselbe. Und wir sind stolz darauf.“ Der Fahnder sagte „wir“ – schließlich war es auch seine Firma. Aber er war sich dieses „Wir“ nicht mehr ganz sicher.
„Nein, das ist ein Märchen, das heute fast alle glauben. Aber es ist einfach falsch. Wir feiern Weihnachten schon viel länger. Wir sind heute nur wenige, aber es gibt uns Christen schon seit den Tagen von Jesus.“
„Behaupten kann das jeder.“
„Wir können es auch beweisen. Wir haben zum Beispiel Bücher aus einer Zeit, bevor Coca Cola gegründet wurde. Und da ist unser Weihnachtsfest schon selbstverständlich. Du kannst die Bücher gern sehen.“
Den Fahnder schwindelte. Konnte das sein: dass alles ganz anders war? Weihnachten, ein Fest dieser kleinen Gruppe von Christen? Weihnachten, gar nicht von seiner Firma erfunden? Dann hatten sie ja im Grunde gar kein Recht, Lizenzgebühren zu kassieren. Dann war letztlich sein Beruf hinfällig.
Er verabschiedete sich schnell und ging hinaus. Er musste nach Hause. Das war schon mehr, als er für heute verkraften konnte. Aber er war sich sicher: Er würde wiederkommen. Er würde weiter fahnden. Wahrscheinlich nicht mehr lange nach säumigen Gebührenzahlern. Er würde weiter suchen nach dem wahren Ursprung von Weihnachten. Er war sich sicher: Hier bei diesen Leuten war eine Spur zu finden. Und er fühlte: Heute hat etwas angefangen, möglicherweise sogar ein ganz neues Leben.
erzählt von Peter Wünsche
1. Es kommt ein Schiff, geladen / bis an sein' höchsten Bord, / trägt Gottes Sohn voll Gnaden, / des Vaters ewigs Wort. 2. Das Schiff geht still im Triebe, / es trägt ein teure Last; / das Segel ist die Liebe, / der Heilig Geist der Mast.3. Der Anker haft' auf Erden, / da ist das Schiff am Land. / Das Wort will Fleisch uns werden, / der Sohn ist uns gesandt.4. Zu Bethlehem geboren / im Stall ein Kindelein, / gibt sich für uns verloren; / gelobet muß es sein.5. Und wer dies Kind mit Freuden / umfangen, küssen will, / muß vorher mit ihm leiden / groß Pein und Marter viel, 6. danach mit ihm auch sterben / und geistlich auferstehn, / das ewig Leben erben, / wie an ihm ist geschehn. EG8
Vier Kerzen. Eine kleine Adventsgeschichte
Johanna starrte auf den grünen Adventskranz. Den Kopf hatte sie in ihre Hände gestützt. Sie zählte nach: Eins, zwei, drei, vier… Vier dicke rote Kerzen steckten auf dem Kranz. Daneben lagen ein kleines Schaukelpferd aus Holz, eine Zimtstange, ein goldener Stern, getrocknete Apfel- und Orangenscheiben und ein Strohstern. Die erste Kerze war schon einmal angezündet worden, ihr Docht war schwarz und schrumpelig und das Wachs schon verformt. Johanna fummelte ein wenig daran herum als ihre Mutter mit einem Teller Adventsplätzchen und einer Kanne heißem Tee ins Wohnzimmer kam. „Au ja, Plätzchen und Dominosteine!“, freute sich Johanna und griff beherzt zu. Der warme Tee tat gut im Bauch und Adventsplätzchen waren einfach die leckersten Plätzchen im ganzen Jahr!
Nach einer Weile schaute Johanna wieder auf den Adventskranz. Ihre Mutter bemerkte Johannas Nachdenklichkeit. Und da sprudelte es auch schon aus ihr heraus: „Eine Kerze. Mama, warum zündest du nicht alle Kerzen an, es sind doch vier Kerzen auf dem Kranz. Und warum immer nur die Gleiche? Die anderen Kerzen sind bestimmt traurig, dass sie nicht angezündet werden! Und Mama, wann ist endlich Heilig Abend..?“
Johannas Mutter lächelte und nahm ihre kleine Tochter auf den Schoß. Sie erklärte ihr, was es mit dem Adventskranz auf sich hat, und dass man an jedem der vier Adventsonntage immer eine Kerze mehr anzündet. „Und wenn die vierte Kerze brennt, dann ist es auch nicht mehr weit bis zum Heiligen Abend…“.
Johanna schaute sich noch einmal die vier Kerzen an. Vier war eine Zahl, die man gut überschauen konnte. „Dann besteht ja doch noch Hoffnung, dass es bald Weihnachten wird“, dachte sie im Stillen.
Am darauf folgenden Sonntag entzündete ihre Mutter die zweite Kerze am Adventskranz. Nun leuchtete er schon etwas heller. An diesem Adventssonntag hatte Johanna keine Zeit, weiter über die vier Kerzen und Weihnachten nachzudenken. Am darauf folgenden Tag sollte der Nikolaus kommen. Johanna lief den ganzen Sonntag mit glühenden Wangen durch die Wohnung, räumte ihr Zimmer auf, übte das Nikolauslied und putzte mehrere Male über ihre Stiefel. Und dann hieß es wieder – warten.
Als sie sich über das lange Warten auf den Nikolaus, das Anzünden der nächsten Kerze am Adventskranz, das Öffnen des nächsten Türchens am Adventskalender – und vor allem auf Weihnachten – bei ihrer Mutter beschwerte, lächelte diese abermals und nahm Johanna wieder zu sich auf den Schoß. „Das ist die Adventszeit, mein Schatz. In der Adventszeit warten wir auf die Ankunft des Herrn, also Jesus Christus. Und diese Ankunft feiern wir an Weihnachten. Dann kommt auch das Christkind zu uns. Aber die Adventszeit gehört dazu, damit wir Weihnachten feiern können. Und deshalb müssen wir uns alle noch ein wenig gedulden.“ Sie deutete auf den Adventskranz: „Aber schau, die Hälft hast du ja schon geschafft. Wenn alle vier Kerzen am Adventskranz brennen, dann ist bald Weihnachten!“
Johanna stellten die Worte ihrer Mutter nicht vollkommen zufrieden, aber sie dachte in den folgenden Tagen oft darüber nach. Und immer, wenn sie sich gerade wieder bei ihrer Mutter über die lange Warterei beschweren wollte, dachte sie über den Satz nach, den sie ihr gesagt hatte: „Die Adventszeit gehört dazu, damit wir Weihnachten feiern können.“ Es half. Ein wenig jedenfalls. Und so freute sie sich über jede neue Kerze, die am Sonntag am Adventskranz entzündet wurde. Und bei jedem Adventsplätzchen-Essen mit ihrer Familie dachte sie daran, dass sie nun dem Heiligen Abend schon ein wenig näher gekommen war…
erzählt von Annika Schneider
Vier Kerzen. Eine kleine Adventsgeschichte
Johanna starrte auf den grünen Adventskranz. Den Kopf hatte sie in ihre Hände gestützt. Sie zählte nach: Eins, zwei, drei, vier… Vier dicke rote Kerzen steckten auf dem Kranz. Daneben lagen ein kleines Schaukelpferd aus Holz, eine Zimtstange, ein goldener Stern, getrocknete Apfel- und Orangenscheiben und ein Strohstern. Die erste Kerze war schon einmal angezündet worden, ihr Docht war schwarz und schrumpelig und das Wachs schon verformt. Johanna fummelte ein wenig daran herum als ihre Mutter mit einem Teller Adventsplätzchen und einer Kanne heißem Tee ins Wohnzimmer kam. „Au ja, Plätzchen und Dominosteine!“, freute sich Johanna und griff beherzt zu. Der warme Tee tat gut im Bauch und Adventsplätzchen waren einfach die leckersten Plätzchen im ganzen Jahr!
Nach einer Weile schaute Johanna wieder auf den Adventskranz. Ihre Mutter bemerkte Johannas Nachdenklichkeit. Und da sprudelte es auch schon aus ihr heraus: „Eine Kerze. Mama, warum zündest du nicht alle Kerzen an, es sind doch vier Kerzen auf dem Kranz. Und warum immer nur die Gleiche? Die anderen Kerzen sind bestimmt traurig, dass sie nicht angezündet werden! Und Mama, wann ist endlich Heilig Abend..?“
Johannas Mutter lächelte und nahm ihre kleine Tochter auf den Schoß. Sie erklärte ihr, was es mit dem Adventskranz auf sich hat, und dass man an jedem der vier Adventsonntage immer eine Kerze mehr anzündet. „Und wenn die vierte Kerze brennt, dann ist es auch nicht mehr weit bis zum Heiligen Abend…“.
Johanna schaute sich noch einmal die vier Kerzen an. Vier war eine Zahl, die man gut überschauen konnte. „Dann besteht ja doch noch Hoffnung, dass es bald Weihnachten wird“, dachte sie im Stillen.
Am darauf folgenden Sonntag entzündete ihre Mutter die zweite Kerze am Adventskranz. Nun leuchtete er schon etwas heller. An diesem Adventssonntag hatte Johanna keine Zeit, weiter über die vier Kerzen und Weihnachten nachzudenken. Am darauf folgenden Tag sollte der Nikolaus kommen. Johanna lief den ganzen Sonntag mit glühenden Wangen durch die Wohnung, räumte ihr Zimmer auf, übte das Nikolauslied und putzte mehrere Male über ihre Stiefel. Und dann hieß es wieder – warten.
Als sie sich über das lange Warten auf den Nikolaus, das Anzünden der nächsten Kerze am Adventskranz, das Öffnen des nächsten Türchens am Adventskalender – und vor allem auf Weihnachten – bei ihrer Mutter beschwerte, lächelte diese abermals und nahm Johanna wieder zu sich auf den Schoß. „Das ist die Adventszeit, mein Schatz. In der Adventszeit warten wir auf die Ankunft des Herrn, also Jesus Christus. Und diese Ankunft feiern wir an Weihnachten. Dann kommt auch das Christkind zu uns. Aber die Adventszeit gehört dazu, damit wir Weihnachten feiern können. Und deshalb müssen wir uns alle noch ein wenig gedulden.“ Sie deutete auf den Adventskranz: „Aber schau, die Hälft hast du ja schon geschafft. Wenn alle vier Kerzen am Adventskranz brennen, dann ist bald Weihnachten!“
Johanna stellten die Worte ihrer Mutter nicht vollkommen zufrieden, aber sie dachte in den folgenden Tagen oft darüber nach. Und immer, wenn sie sich gerade wieder bei ihrer Mutter über die lange Warterei beschweren wollte, dachte sie über den Satz nach, den sie ihr gesagt hatte: „Die Adventszeit gehört dazu, damit wir Weihnachten feiern können.“ Es half. Ein wenig jedenfalls. Und so freute sie sich über jede neue Kerze, die am Sonntag am Adventskranz entzündet wurde. Und bei jedem Adventsplätzchen-Essen mit ihrer Familie dachte sie daran, dass sie nun dem Heiligen Abend schon ein wenig näher gekommen war…
erzählt von Annika Schneider
Nun komm der Heiden Heiland, der Jungfrauen Kind erkannt, dass sich wunder alle Welt, Gott solch Geburt ihm bestellt.
Er ging aus der Kammer sein, dem königlichen Saal so rein, Gott von Art und Mensch, ein Held; sein´ Weg er zu laufen eilt.
Sein Lauf kam vom Vater her und kehrt wieder zum Vater, fuhr hinunter zu der Höll und wieder zu Gottes Stuhl.
Dein Krippen glänzt hell und klar, die Nacht gibt ein neu Licht dar. Dunkel muss nicht kommen drein, der Glaub bleib immer im Schein.
Lob sei Gott dem Vater g´tan Lob sei Gott seim ein´gen Sohn, Lob sei Gott dem heilgen Geist immer und in Ewigkeit. EG 4
Wie Nikolaus von Myra drei Jungfrauen rettete
Er ging aus der Kammer sein, dem königlichen Saal so rein, Gott von Art und Mensch, ein Held; sein´ Weg er zu laufen eilt.
Sein Lauf kam vom Vater her und kehrt wieder zum Vater, fuhr hinunter zu der Höll und wieder zu Gottes Stuhl.
Dein Krippen glänzt hell und klar, die Nacht gibt ein neu Licht dar. Dunkel muss nicht kommen drein, der Glaub bleib immer im Schein.
Lob sei Gott dem Vater g´tan Lob sei Gott seim ein´gen Sohn, Lob sei Gott dem heilgen Geist immer und in Ewigkeit. EG 4
Wie Nikolaus von Myra drei Jungfrauen rettete
Es war einmal ein Vater von drei Mädchen, dessen Frau leider verstorben war. Er arbeitete als Fischer aber die Fische blieben in letzter Zeit immer häufiger aus. Voller Angst holte er jeden Abend die Netze ein, nur um ein über das andere Mal festzustellen, dass der karge Fang gerade mal reichte, um den Hunger der eigenen Familie aufs Nötigste zu stillen. Die Hütte, in der er mit den Mädchen schlief, konnte er nur noch sehr notdürftig heizen und die Mädchen sammelten dafür den ganzen Tag über, was sie an Holz finden konnten. Nachts lag er wach im Bett und betete. Doch es schien nicht zu helfen. Er wusste nicht mehr ein und aus und schließlich zog er sogar in Betracht seine Töchter in die Prostitution zu geben. Sie kamen langsam ins heiratsfähige Alter und er konnte sie kaum ernähren, geschweige denn eine Mitgift für sie zusammen kratzen. Sein Herz war schwer aber es schien die einzige Lösung zu sein.
Als er eines Nachts wieder grübelnd in seinem Bett lag, wurden er und seine Töchter von einem lauten Poltern geweckt. Es war eine heiße Nacht und etwas war durch das Fenster geflogen. Hastig entzündete der Vater eine Kerze und im ersten Moment konnte er gar nicht glauben, was er da auf dem Fußboden liegen sah. Es war ein Klumpen aus reinem Gold. Groß genug um seiner ältesten Tochter als Mitgift zu dienen. Sein Herz wurde ein kleines Bisschen leichter. Er lief schnell zum Fenster um nachzuschauen, wer den Klumpen geworfen hatte, doch er konnte niemanden entdecken.
In der nächsten Nacht lag er wieder grübelnd im Bett. Seiner ältesten Tochter war nun zwar ein besseres Schicksal gegönnt, doch auch der zweiten Tochter wollte er den Weg in die Prostitution gerne ersparen. Er wusste nur nicht, wie er das anstellen sollte. Da polterte es abermals. Der Vater kramte wieder nach der Kerze, entzündete sie, erblickte einen zweiten Goldklumpen auf dem Fußboden und lief eilig zum Fenster. Er konnte ein Mann von hinten erblicken, der aber schon so weit weg war, dass er ihm nicht danken konnte. Nun war also auch seine zweite Tochter gerettet.
Zwei Töchter waren vor der Prostitution bewahrt, doch auch in der darauf folgenden Nacht, lag der Vater grübelnd im Bett. Er hatte ja noch eine dritte Tochter. Wie sollte er ihr nur einen ähnlichen Weg wie den Schwestern ermöglichen. Abrupt brach seine Grübelei ab, als es erneut polterte und er den Goldklumpen schon im Dunkeln auf dem Fußboden glitzern sah. Diesmal verlor er keine Zeit. Er hastete eilig zum Fenster und sah einen Mann von hinten. „Wie heißt du?“ fragte der Vater. Der Fremde drehte sich kurz um: „Ich bin Nikolaus.“, dann ging eilig er von dannen. „Danke!“ konnte der Vater noch rufen. Dann war Nikolaus verschwunden.
Als er eines Nachts wieder grübelnd in seinem Bett lag, wurden er und seine Töchter von einem lauten Poltern geweckt. Es war eine heiße Nacht und etwas war durch das Fenster geflogen. Hastig entzündete der Vater eine Kerze und im ersten Moment konnte er gar nicht glauben, was er da auf dem Fußboden liegen sah. Es war ein Klumpen aus reinem Gold. Groß genug um seiner ältesten Tochter als Mitgift zu dienen. Sein Herz wurde ein kleines Bisschen leichter. Er lief schnell zum Fenster um nachzuschauen, wer den Klumpen geworfen hatte, doch er konnte niemanden entdecken.
In der nächsten Nacht lag er wieder grübelnd im Bett. Seiner ältesten Tochter war nun zwar ein besseres Schicksal gegönnt, doch auch der zweiten Tochter wollte er den Weg in die Prostitution gerne ersparen. Er wusste nur nicht, wie er das anstellen sollte. Da polterte es abermals. Der Vater kramte wieder nach der Kerze, entzündete sie, erblickte einen zweiten Goldklumpen auf dem Fußboden und lief eilig zum Fenster. Er konnte ein Mann von hinten erblicken, der aber schon so weit weg war, dass er ihm nicht danken konnte. Nun war also auch seine zweite Tochter gerettet.
Zwei Töchter waren vor der Prostitution bewahrt, doch auch in der darauf folgenden Nacht, lag der Vater grübelnd im Bett. Er hatte ja noch eine dritte Tochter. Wie sollte er ihr nur einen ähnlichen Weg wie den Schwestern ermöglichen. Abrupt brach seine Grübelei ab, als es erneut polterte und er den Goldklumpen schon im Dunkeln auf dem Fußboden glitzern sah. Diesmal verlor er keine Zeit. Er hastete eilig zum Fenster und sah einen Mann von hinten. „Wie heißt du?“ fragte der Vater. Der Fremde drehte sich kurz um: „Ich bin Nikolaus.“, dann ging eilig er von dannen. „Danke!“ konnte der Vater noch rufen. Dann war Nikolaus verschwunden.
(Kehrvers): Freut euch, ihr Christen, freuet euch sehr! / Schon ist nahe der Herr.
Wir sagen euch an den lieben Advent. / Sehet, die zweite Kerze brennt! / So nehmet euch eins um das andere an, / wie auch der Herr an uns getan. /
(Kehrvers): Freut euch, ihr Christen, freuet euch sehr! / Schon ist nahe der Herr.
Der heutige Text ist kürzer, er stammt am Sonntag dem 2. Advent aus dem Prophetenbuch Sacharja:
Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin. 10 Denn ich will die Wagen vernichten in Ephraim und die Rosse in Jerusalem, und der Kriegsbogen soll zerbrochen werden. Denn er wird Frieden gebieten den Völkern, und seine Herrschaft wird sein von einem Meer bis zum andern und vom Strom bis an die Enden der Erde.
Tochter Zion, freue dich, / jauchze laut, Jerusalem! / Sieh, dein König kommt zu dir, / ja er kommt, der Friedefürst. / Tochter Zion, freue dich, / jauchze laut, Jerusalem!
Der heutige Text ist kürzer, er stammt am Sonntag dem 2. Advent aus dem Prophetenbuch Sacharja:
Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin. 10 Denn ich will die Wagen vernichten in Ephraim und die Rosse in Jerusalem, und der Kriegsbogen soll zerbrochen werden. Denn er wird Frieden gebieten den Völkern, und seine Herrschaft wird sein von einem Meer bis zum andern und vom Strom bis an die Enden der Erde.
Tochter Zion, freue dich, / jauchze laut, Jerusalem! / Sieh, dein König kommt zu dir, / ja er kommt, der Friedefürst. / Tochter Zion, freue dich, / jauchze laut, Jerusalem!
Hosianna, Davids Sohn, / sei gesegnet deinem Volk! / Gründe nun dein ewig Reich, / Hosianna in der Höh! / Hosianna, Davids Sohn, / sei gesegnet deinem Volk!
Hosianna, Davids Sohn, / sei gegrüßet, König mild! / Ewig steht dein Friedensthron, / du, des ewgen Vaters Kind. / Hosianna, Davids Sohn, / sei gegrüßet, König mild!
Leider bin ich spät dran heute, weil der Tag von der multi aktion für die Leeraner tafel bestimmt war und ich noch nicht lange wieder zu Hause bin. Dafür gibt es ein paar meher Liedt´strophen, passend zum Datum...
Lasst uns froh und munter sein
Und uns recht von Herzen freuen
Lustig, lustig, traleralala
Bald ist Nikolausabend da
Bald ist Nikolausabend da
Lasst uns froh und munter sein
Und uns recht von Herzen freuen
Lustig, lustig, traleralala
Bald ist Nikolausabend da
Bald ist Nikolausabend da
Dann stell' ich den Teller auf
Niklaus legt gewiss was drauf
Lustig, lustig, traleralala
Bald ist Nikolausabend da
Bald ist Nikolausabend da
Wenn ich schlaf', dann träume ich
Jetzt bringt Niklaus was für mich
Lustig, lustig, traleralala
Bald ist Nikolausabend da
Bald ist Nikolausabend da
Jetzt bringt Niklaus was für mich
Lustig, lustig, traleralala
Bald ist Nikolausabend da
Bald ist Nikolausabend da
Wenn ich aufgestanden bin ...
Ach nee, das ist ja erst morgen
Und hier die Geschichte für heute
Wie der Nikolaus von Myra eine Stadt vor dem Verhungern rettete
Es herrschte eine große Hungersnot in Myra. Die Kinder standen mit großen Augen und leeren Bäuchen vor den Toren des Bischofs von Myra und baten um Hilfe, und vor allem um Brot. Der Bischof hatte schon all seine eigenen Vorräte hergegeben, aber es reichte einfach nicht.
Mit vor Hunger schmerzendem Magen stand er am Fenster und grübelte auf der Suche nach einer Lösung. Von seinem Fenster aus konnte er den Hafen sehen und dort lag ein Schiff aus der Flotte des Kaisers in Byzanz vor Anker. „Was hat dieses Schiff eigentlich geladen?“ fragte er einen seiner Vertrauten. „Korn, Bischof Nikolaus, aber die Seeleute wollen und dürfen nichts verkaufen.“, antwortete dieser.
Nikolaus ging sofort in die Kapelle und fing an zu beten. Er betete für den Rest des Tages, er betete den ganzen Abend und er betete die Nacht hindurch. Er machte noch nicht einmal eine Pause, um die Notdurft zu verrichten oder um etwas zu essen. Am nächsten Morgen, ganz früh, erhob er sich vom Gebet und ging zum Hafen um mit den Seeleuten zu sprechen. Diese wollten ihm erst auch kein Korn geben, doch als Nikolaus ihnen versprach, dass kein Nachteil für die Seeleute entstehen würde, gaben sie nach. Auch sie hatten die hungernden Kinder gesehen und waren erfüllt von Mitleid.
Die Stadt jubelte. Endlich konnte wieder Brot gebacken werden. Und wie herrlich Brot doch schmecken kann, wenn man schon lange keines mehr hatte. Es wurde ein richtiges Fest. Das Strahlen kehrte in die Augen der Kinder zurück. Die Stadt hatte nun reichlich Korn. Es war nicht nur genug um das Fest auszurichten, es reichte für das ganze Jahr, für das ganze kommende Jahr reichte das Korn auch noch und selbst danach, war noch ein kleiner Rest übrig, der für die Aussaat genutzt werden konnte.
Die Seeleute aber staunten nicht schlecht, als sie das Korn beim Kaiser ablieferten. Es fehlte nicht ein Gramm der Schiffsladung.
Mit Ernst, o Menschenkinder, das Herz in euch bestellt, bald wird das Heil der Sünder, der wunderbare Held, den Gott aus Gnad allein der Welt zum Licht und Leben versprochen hat zu geben, bei allen kehren ein. EG 10,1
Eine Nikolausgeschichte
Eine Nikolausgeschichte
„Guten Abend“, sagte der Nikolaus.
„Ja, schon recht“, erwiderte der Weihnachtsmann, „immer schön freundlich“, und er setzte etwas hinzu, was sich nach „blöder Job“ anhörte.
„Wer bist du denn?“
„Siehst du doch, ich bin der Weihnachtsmann“, sagte der Weihnachtsmann und verzog sein Gesicht. „Ich bin der 27. Weihnachtsmann heute, dich gar nicht mitgezählt.“
„Und was machst du?“, fragte Nikolaus, der mit dem mürrischen Ton des anderen nichts anfangen konnte.
„Ich mache, was alle Weihnachtsmänner machen.“
„Und was tun alle Weihnachtsmänner?“
„Dumme Frage. Reklame natürlich. Ich verschenke Pralinen. Die sollen den Leuten Appetit machen. Dann kaufen sie sich die große Packung zu vierzehn neunzig oder die Superpackung zu neunundzwanzig achtzig. Und je mehr die Leute heute kaufen, desto zufriedener ist mein Chef, und desto größer ist dann auch mein Trinkgeld.“
„Das heißt: Du verschenkst gar nichts wirklich?“ bohrte Nikolaus weiter.
„Sagt mal, tust du nur so oder bist du wirklich so naiv?“, gab der Weihnachtsmann zurück. „Niemand hat was zu verschenken.“
„Ich schon“, erwiderte Nikolaus.
„Du bist ein seltsamer Vogel. Und was verschenkst du?“
„Äpfel vom Baum des Lebens.“
„Äpfel bringen werbetechnisch nichts ein. Wer ist denn dein Chef?“
Nikolaus verstand nicht ganz. Er musste tief Luft holen. „Mein Herr ist Er, der Eine, der Höchste. Einmal im Jahr darf ich mit seiner Erlaubnis auf die Erde kommen und einen Sack Äpfel vom Baum des Lebens verschenken.“
„Hast deinen Spruch gut gelernt“, sagte der Weihnachtsmann spöttisch. „Dann bist du also der wirklich echte Nikolaus?“
„Ja sicher, wer denn sonst?“
„Geh weiter, du alter Spinner, und grüß mir den Osterhasen!“ Der Weihnachtsmann grinste und lief in die Dämmerung davon.
***
Auf einem Mauersockel in der Hofeinfahrt saß der Junge. Nikolaus ging auf ihn zu. „Du siehst traurig aus. Stimmt etwas nicht?“
Eigentlich wollte der Junge nichts sagen, aber dann sah er sich den Nikolaus an, fand, dass er einen ganz vertrauenswürdigen Eindruck machte, und entschloss sich, doch zu antworten.
„Ach, meine Eltern sind doof. Ich hatte mir zu Nikolaus Tomb Raider gewünscht, und was haben sie mir geschenkt: Super Mario. Das ist doch was für Babys.“
„Was meinst du: Super Mario, Tomb Raider – was sind das für Dinge?“
„Ach, du verstehst genausowenig davon wie meine Eltern. Das sind Computerspiele. Aber die Erwachsenen haben davon keine Ahnung.“
„Da hast du wohl recht. Magst du einen Apfel?“
„Jaja“, sagte der Junge gelangweilt. Und er dachte sich: ‚Ich mag doch gar keine Äpfel. Aber wenn ich einen nehme, lässt mich der komische Alte in Ruhe.‘
Nikolaus gab ihm einen Apfel und ging weiter. ‚Schade, dass ich ihn nicht verstehen kann‘, ging es ihm durch den Kopf.
Als Nikolaus um die nächste Ecke gebogen war, kickte der Junge missmutig den Apfel mit dem linken Fuß quer über die Straße. An einer Hauswand zerplatze er. Ein paar Stadttauben flatterten hinzu und fingen an, sich aufgeregt um die Apfelstücke zu balgen. Der Junge schaute den Tauben zu und musste ein wenig lächeln – zum erstenmal an diesem Tag.
***
Mit zwei Tüten aus einem Billigmarkt kam die junge Frau die Fußgängerzone entlang.
„Darf ich Ihnen einen Apfel schenken?“, fragte Nikolaus. „Ach ja, gern“, erwiderte die Frau. „Der sieht ja gut aus! Wo gibt's denn die zu kaufen?“
„Diese Äpfel kann man nicht kaufen, die kann man sich nur schenken lassen.“
„Seltsam“, sagte die Frau. „Wissen sie, ich bin immer auf der Suche nach Sonderangeboten. Nein, wir sind nicht arm, aber seit sie meinem Mann das Weihnachtsgeld gekürzt haben, da müssen wir schon sparen. Der Gabentisch an Weihnachten soll ja für unsere vier Kinder nicht ganz leer sein.“
Als Nikolaus von den Kindern hörte, schenkte er der jungen Frau noch ein paar Äpfel dazu.
Man trifft nicht jeden Tag so einen freundlichen Nikolaus, und so erzählte die Frau noch ein paar Minuten weiter von ihrer Familie und von ihren Sorgen. Nikolaus nahm sich Zeit, ihr zuzuhören. Er spürte, dass es ihr gut tat, ein wenig zu reden. Schließlich sagte sie: „So, ich muss zum Bus. War schön, dass wir uns kennen gelernt haben.“
Nach dem Abendessen briet die Frau die Äpfel im Backrohr, und ihr Duft füllte die Wohnung. Die ganze Familie aß Bratäpfel. Eines von den Kindern kam auf die Idee, das Licht auszuschalten und ein paar Kerzen anzuzünden. Die Frau erzählte von ihrer Begegnung mit dem Nikolaus in der Stadt, der Mann erzählte den Kindern vom Advent in seiner Jugendzeit, die Kinder fingen an, ihre kleinen Erlebnisse vom Tag zu berichten. Es war richtig gemütlich. Und als es spät geworden war, fiel ihnen auf, dass sie zu erstenmal seit Monaten vergessen hatten, den Fernseher einzuschalten.
***
Nikolaus war inzwischen weitergegangen. Die Geschäfte hatten geschlossen. Es wurde kalt. Die Stadt hatte sich geleert. Viele Äpfel hatte Nikolaus verschenkt, zwei hatte er noch übrig. Er überlegte gerade, wie er sie noch loswerden konnte. Da wäre er fast über den Mann gestolpert, der auf einem Stück Pappe vor dem Eingang des öffentlichen WC lagerte. Nikolaus beugte sich zu ihm herunter. Ein Fahne von billigem Schnaps wehte ihm vom Mund des Mannes entgegen. Und seine Kleider rochen, wie die Kleider eines Stadtstreichers eben riechen.
„Haschschu ma ne Maak für mich?“ fragte der Mann.
„Ich habe kein Geld“, musste Nikolaus bedauernd zugeben. Er setzte sich zu dem Alten auf den Karton.
„Hast du wenigstens was zu essen?“
„Bloß noch zwei Äpfel.“
„Äpfel – naja, besser als nichts. Aber einer reicht mir schon. Weißt du, Bruder, mehr verträgt mein Magen nicht mehr. Der viele Schnaps hat ihn kaputtgemacht, meinen Magen.“
So gut es der Alkohol zuließ, fing der Stadtstreicher an, zu erzählen. Vieles war bloß halb zu verstehen, vieles war durcheinander geraten. Nikolaus hörte etwas von Gefängnis und Arbeitslosigkeit und Scheidung und Wohnungskündigung, erfuhr von einem Leben zwischen Sozialamt und Wärmestube. Während der Mann mit seinem Taschenmesser kleine Stücke vom Apfel abschnitt und in den fast zahnlosen Mund führte und so der Redefluss ins Stocken geraten war, fragte Nikolaus: „Und wo schläfst du heute nacht?“
„Wo ich im Winter immer schlafe: hier.“
„Was, hier im Freien?“
„Nein, da drin, im Vorraum vom Herrenklo. Das stinkt zwar ein bisschen, aber es ist wenigstens nicht ganz so kalt. – So, und jetzt ist Schluss für heute“, setzte er plötzlich hinzu. „Danke noch für den Apfel.“
Lag es nun an dem süßen Apfel, der ihn von innen zu wärmen schien, lag es an der Begegnung mit dem seltsamen Fremden und dem langen Gespräch: Der Mann konnte zum erstenmal seit Monaten wieder eine ganze Nacht durchschlafen. Weder Kälte noch Magenschmerzen weckten ihn für sieben lange Stunden – und das war doch schon etwas.
***
Nikolaus war weitergegangen. „Alten- und Pflegeheim St. Nikolaus“ stand über einer großen Tür. Nikolaus fühlte sich von dem Gebäude angezogen. Hier, das wusste er, musste er seinen letzten Apfel loswerden.
Die Tür stand noch offen. In dem Gebäude roch es nach alten Menschen und nach Desinfektionsmittel. Die Flure waren von kalten Neonleuchten erhellt. In einer Glaskabine sah er die Nachtschwester irgendwelche wichtigen Zahlen in irgendwelche wichtigen Tabellen eintragen. Sie beachtete ihn nicht.
Nikolaus öffnete eine Zimmertür. Er spürte es und wusste mit Sicherheit: Hinter dieser Tür wartet jemand auf mich. Das Zimmer war vom Nachtlicht schwach erleuchtet. Alles war sauber, fast ein wenig zu sauber. Ordentlich gebettet lag da eine alte Frau in ihrem Pflegebett.
„Wer schickt Sie denn?“ fragte sie. „Kommen sie vom Pfarramt?“
„Nicht verraten“, sagte Nikolaus, „ich bin der heilige Nikolaus, der echte“.
„Das ist aber schön“, sagte die alte Frau, „dass mal jemand mich besuchen kommt. Wissen Sie, mich besucht nie jemand. Die Schwestern sind ja freundlich und machen ihre Arbeit. Aber sie haben so viel zu tun. Mein Mann ist schon vor 15 Jahren gestorben, Kinder haben wir nicht. Zu Weihnachten kam immer ein Großneffe mich besuchen, aber diesmal kann er nicht kommen. Es hat mir einen Brief geschrieben. Er verreist über Weihnachten auf die Kanarischen Inseln. Vielleicht kommt er ja nach Neujahr einmal vorbei – ja, vielleicht. Die jungen Leute haben ja immer so viele Pläne.“
Ihre Stimme ist ohne Bitterkeit und klingt doch unendlich traurig.
„Ich kann nicht mehr laufen, ich kann kaum noch sehen, mich braucht niemand mehr.“
Ihre Augen werden feucht.
„Ich habe nur noch einen Wunsch. Du weißt schon: Es ist genug. Aber es soll schnell gehen und nicht so sehr weh tun. Manchmal glaube ich, sogar der liebe Gott hat mich vergessen.“
„Nein, er hat dich nicht vergessen. Er hat mich geschickt.“ Nikolaus fährt der alten Frau liebevoll mit der Hand über die Stirn. „Komm, lass uns gehen!“
Die Nachtschwester fand sie zwei Stunden später. Ihr Leib war schon ziemlich kalt geworden. Auf ihrem Gesicht war ein Lächeln, wie man es bei Toten nur selten findet. Unversehrt auf dem Nachtkästchen lag ein Apfel und verströmte einen wunderbar frischen, süßen Duft. Wie der dahin gekommen war, konnte niemand erklären.
„Ja, schon recht“, erwiderte der Weihnachtsmann, „immer schön freundlich“, und er setzte etwas hinzu, was sich nach „blöder Job“ anhörte.
„Wer bist du denn?“
„Siehst du doch, ich bin der Weihnachtsmann“, sagte der Weihnachtsmann und verzog sein Gesicht. „Ich bin der 27. Weihnachtsmann heute, dich gar nicht mitgezählt.“
„Und was machst du?“, fragte Nikolaus, der mit dem mürrischen Ton des anderen nichts anfangen konnte.
„Ich mache, was alle Weihnachtsmänner machen.“
„Und was tun alle Weihnachtsmänner?“
„Dumme Frage. Reklame natürlich. Ich verschenke Pralinen. Die sollen den Leuten Appetit machen. Dann kaufen sie sich die große Packung zu vierzehn neunzig oder die Superpackung zu neunundzwanzig achtzig. Und je mehr die Leute heute kaufen, desto zufriedener ist mein Chef, und desto größer ist dann auch mein Trinkgeld.“
„Das heißt: Du verschenkst gar nichts wirklich?“ bohrte Nikolaus weiter.
„Sagt mal, tust du nur so oder bist du wirklich so naiv?“, gab der Weihnachtsmann zurück. „Niemand hat was zu verschenken.“
„Ich schon“, erwiderte Nikolaus.
„Du bist ein seltsamer Vogel. Und was verschenkst du?“
„Äpfel vom Baum des Lebens.“
„Äpfel bringen werbetechnisch nichts ein. Wer ist denn dein Chef?“
Nikolaus verstand nicht ganz. Er musste tief Luft holen. „Mein Herr ist Er, der Eine, der Höchste. Einmal im Jahr darf ich mit seiner Erlaubnis auf die Erde kommen und einen Sack Äpfel vom Baum des Lebens verschenken.“
„Hast deinen Spruch gut gelernt“, sagte der Weihnachtsmann spöttisch. „Dann bist du also der wirklich echte Nikolaus?“
„Ja sicher, wer denn sonst?“
„Geh weiter, du alter Spinner, und grüß mir den Osterhasen!“ Der Weihnachtsmann grinste und lief in die Dämmerung davon.
***
Auf einem Mauersockel in der Hofeinfahrt saß der Junge. Nikolaus ging auf ihn zu. „Du siehst traurig aus. Stimmt etwas nicht?“
Eigentlich wollte der Junge nichts sagen, aber dann sah er sich den Nikolaus an, fand, dass er einen ganz vertrauenswürdigen Eindruck machte, und entschloss sich, doch zu antworten.
„Ach, meine Eltern sind doof. Ich hatte mir zu Nikolaus Tomb Raider gewünscht, und was haben sie mir geschenkt: Super Mario. Das ist doch was für Babys.“
„Was meinst du: Super Mario, Tomb Raider – was sind das für Dinge?“
„Ach, du verstehst genausowenig davon wie meine Eltern. Das sind Computerspiele. Aber die Erwachsenen haben davon keine Ahnung.“
„Da hast du wohl recht. Magst du einen Apfel?“
„Jaja“, sagte der Junge gelangweilt. Und er dachte sich: ‚Ich mag doch gar keine Äpfel. Aber wenn ich einen nehme, lässt mich der komische Alte in Ruhe.‘
Nikolaus gab ihm einen Apfel und ging weiter. ‚Schade, dass ich ihn nicht verstehen kann‘, ging es ihm durch den Kopf.
Als Nikolaus um die nächste Ecke gebogen war, kickte der Junge missmutig den Apfel mit dem linken Fuß quer über die Straße. An einer Hauswand zerplatze er. Ein paar Stadttauben flatterten hinzu und fingen an, sich aufgeregt um die Apfelstücke zu balgen. Der Junge schaute den Tauben zu und musste ein wenig lächeln – zum erstenmal an diesem Tag.
***
Mit zwei Tüten aus einem Billigmarkt kam die junge Frau die Fußgängerzone entlang.
„Darf ich Ihnen einen Apfel schenken?“, fragte Nikolaus. „Ach ja, gern“, erwiderte die Frau. „Der sieht ja gut aus! Wo gibt's denn die zu kaufen?“
„Diese Äpfel kann man nicht kaufen, die kann man sich nur schenken lassen.“
„Seltsam“, sagte die Frau. „Wissen sie, ich bin immer auf der Suche nach Sonderangeboten. Nein, wir sind nicht arm, aber seit sie meinem Mann das Weihnachtsgeld gekürzt haben, da müssen wir schon sparen. Der Gabentisch an Weihnachten soll ja für unsere vier Kinder nicht ganz leer sein.“
Als Nikolaus von den Kindern hörte, schenkte er der jungen Frau noch ein paar Äpfel dazu.
Man trifft nicht jeden Tag so einen freundlichen Nikolaus, und so erzählte die Frau noch ein paar Minuten weiter von ihrer Familie und von ihren Sorgen. Nikolaus nahm sich Zeit, ihr zuzuhören. Er spürte, dass es ihr gut tat, ein wenig zu reden. Schließlich sagte sie: „So, ich muss zum Bus. War schön, dass wir uns kennen gelernt haben.“
Nach dem Abendessen briet die Frau die Äpfel im Backrohr, und ihr Duft füllte die Wohnung. Die ganze Familie aß Bratäpfel. Eines von den Kindern kam auf die Idee, das Licht auszuschalten und ein paar Kerzen anzuzünden. Die Frau erzählte von ihrer Begegnung mit dem Nikolaus in der Stadt, der Mann erzählte den Kindern vom Advent in seiner Jugendzeit, die Kinder fingen an, ihre kleinen Erlebnisse vom Tag zu berichten. Es war richtig gemütlich. Und als es spät geworden war, fiel ihnen auf, dass sie zu erstenmal seit Monaten vergessen hatten, den Fernseher einzuschalten.
***
Nikolaus war inzwischen weitergegangen. Die Geschäfte hatten geschlossen. Es wurde kalt. Die Stadt hatte sich geleert. Viele Äpfel hatte Nikolaus verschenkt, zwei hatte er noch übrig. Er überlegte gerade, wie er sie noch loswerden konnte. Da wäre er fast über den Mann gestolpert, der auf einem Stück Pappe vor dem Eingang des öffentlichen WC lagerte. Nikolaus beugte sich zu ihm herunter. Ein Fahne von billigem Schnaps wehte ihm vom Mund des Mannes entgegen. Und seine Kleider rochen, wie die Kleider eines Stadtstreichers eben riechen.
„Haschschu ma ne Maak für mich?“ fragte der Mann.
„Ich habe kein Geld“, musste Nikolaus bedauernd zugeben. Er setzte sich zu dem Alten auf den Karton.
„Hast du wenigstens was zu essen?“
„Bloß noch zwei Äpfel.“
„Äpfel – naja, besser als nichts. Aber einer reicht mir schon. Weißt du, Bruder, mehr verträgt mein Magen nicht mehr. Der viele Schnaps hat ihn kaputtgemacht, meinen Magen.“
So gut es der Alkohol zuließ, fing der Stadtstreicher an, zu erzählen. Vieles war bloß halb zu verstehen, vieles war durcheinander geraten. Nikolaus hörte etwas von Gefängnis und Arbeitslosigkeit und Scheidung und Wohnungskündigung, erfuhr von einem Leben zwischen Sozialamt und Wärmestube. Während der Mann mit seinem Taschenmesser kleine Stücke vom Apfel abschnitt und in den fast zahnlosen Mund führte und so der Redefluss ins Stocken geraten war, fragte Nikolaus: „Und wo schläfst du heute nacht?“
„Wo ich im Winter immer schlafe: hier.“
„Was, hier im Freien?“
„Nein, da drin, im Vorraum vom Herrenklo. Das stinkt zwar ein bisschen, aber es ist wenigstens nicht ganz so kalt. – So, und jetzt ist Schluss für heute“, setzte er plötzlich hinzu. „Danke noch für den Apfel.“
Lag es nun an dem süßen Apfel, der ihn von innen zu wärmen schien, lag es an der Begegnung mit dem seltsamen Fremden und dem langen Gespräch: Der Mann konnte zum erstenmal seit Monaten wieder eine ganze Nacht durchschlafen. Weder Kälte noch Magenschmerzen weckten ihn für sieben lange Stunden – und das war doch schon etwas.
***
Nikolaus war weitergegangen. „Alten- und Pflegeheim St. Nikolaus“ stand über einer großen Tür. Nikolaus fühlte sich von dem Gebäude angezogen. Hier, das wusste er, musste er seinen letzten Apfel loswerden.
Die Tür stand noch offen. In dem Gebäude roch es nach alten Menschen und nach Desinfektionsmittel. Die Flure waren von kalten Neonleuchten erhellt. In einer Glaskabine sah er die Nachtschwester irgendwelche wichtigen Zahlen in irgendwelche wichtigen Tabellen eintragen. Sie beachtete ihn nicht.
Nikolaus öffnete eine Zimmertür. Er spürte es und wusste mit Sicherheit: Hinter dieser Tür wartet jemand auf mich. Das Zimmer war vom Nachtlicht schwach erleuchtet. Alles war sauber, fast ein wenig zu sauber. Ordentlich gebettet lag da eine alte Frau in ihrem Pflegebett.
„Wer schickt Sie denn?“ fragte sie. „Kommen sie vom Pfarramt?“
„Nicht verraten“, sagte Nikolaus, „ich bin der heilige Nikolaus, der echte“.
„Das ist aber schön“, sagte die alte Frau, „dass mal jemand mich besuchen kommt. Wissen Sie, mich besucht nie jemand. Die Schwestern sind ja freundlich und machen ihre Arbeit. Aber sie haben so viel zu tun. Mein Mann ist schon vor 15 Jahren gestorben, Kinder haben wir nicht. Zu Weihnachten kam immer ein Großneffe mich besuchen, aber diesmal kann er nicht kommen. Es hat mir einen Brief geschrieben. Er verreist über Weihnachten auf die Kanarischen Inseln. Vielleicht kommt er ja nach Neujahr einmal vorbei – ja, vielleicht. Die jungen Leute haben ja immer so viele Pläne.“
Ihre Stimme ist ohne Bitterkeit und klingt doch unendlich traurig.
„Ich kann nicht mehr laufen, ich kann kaum noch sehen, mich braucht niemand mehr.“
Ihre Augen werden feucht.
„Ich habe nur noch einen Wunsch. Du weißt schon: Es ist genug. Aber es soll schnell gehen und nicht so sehr weh tun. Manchmal glaube ich, sogar der liebe Gott hat mich vergessen.“
„Nein, er hat dich nicht vergessen. Er hat mich geschickt.“ Nikolaus fährt der alten Frau liebevoll mit der Hand über die Stirn. „Komm, lass uns gehen!“
Die Nachtschwester fand sie zwei Stunden später. Ihr Leib war schon ziemlich kalt geworden. Auf ihrem Gesicht war ein Lächeln, wie man es bei Toten nur selten findet. Unversehrt auf dem Nachtkästchen lag ein Apfel und verströmte einen wunderbar frischen, süßen Duft. Wie der dahin gekommen war, konnte niemand erklären.
erztählt von Peter Wünsche
Tochter Zion, freue dich, jauchze laut, Jerusalem! Sieh, dein König kommt zu dir, ja, er kommt, der Friedefürst. Tochter Zion, freue dich, jauchze laut, Jerusalem!
Weihnachtsmarktwirtschaft
Die Stadt war nicht besonders groß. Aber sie hatte ein romantisches mittelalterliches Stadtbild, und Touristen kamen gar nicht wenige. So leistete man sich auch jährlich einen Weihnachtsmarkt, der größer war, als die Stadt erwarten ließ.
Neben vielen anderen Dingen, die zu einem Weihnachtsmarkt gehören, also neben Glühwein und Popcorn, neben Kerzen und warmer Winterkleidung gab es auch zwei Stände mit geschnitzten Krippenfiguren in vielen Größen; und für die Leute mit weniger Geld hatten die Händler auch billigere Figuren aus Plastik bereitstehen. Der eine Stand gehörte Herrn Lang, der andere Herrn Kurz, und die Geschäfte liefen jahrelang so einigermaßen.
Aber wie es so geht: Eines Tages hatte jede Familie in der Stadt eine Krippe von Herrn Kurz oder Herrn Lang zu Hause stehen, und den Touristen saß das Geld auch nicht mehr so locker.
Da hatte Herr Lang eine Idee. Bei einer Kunststoffgießerei gab er eine völlig neue Krippe in Auftrag und brachte sie auf den Markt. So etwas war noch nie da gewesen. Und in diesem Jahr machte Herr Lang doppelt so viel Umsatz wie im Vorjahr und dreimal so viel wie Herr Kurz. Die Idee: Seine Krippenfiguren waren kleine Elche. Josef als großer Elch mit gewaltigem Geweih, Maria als etwas kleinere und geweihlose Elchkuh, das Jesuskind als winzig kleiner Elch mit einem ganz winzigen Geweih, die Hirten, die drei Könige: alles Elche. Nur die Schafe durften Schafe bleiben.
„Ach wie süß“, sagten viele – und kauften. Die Gewinnspanne pro Krippe war nur klein, aber die Masse macht’s bekanntlich. Am Heiligen Abend konnte Herr Lang hochzufrieden seinen Stand schließen. Alle Elche waren punktgenau verkauft.
Herr Kurz war alles andere als zufrieden. Er musste entweder eine neue Idee haben oder den Stand am Weihnachtsmarkt aufgeben. Er hatte Glück. Im Sommer wurde im Zoo der nahegelegenen Großstadt ein kleiner Eisbär geboren. Da ihn die Mutter nicht annahm, musste er mit der Hand aufgezogen werden. Die Zeitungen waren voll von dieser rührenden Geschichte.
Und Herr Kurz hatte nun seine Idee. Im Dezember gab es an seinem Stand jetzt eine Eisbärenkrippe: Jesus als kleiner Eisbär, umsorgt von Josef und Maria in Eisbärengestalt, besucht von Hirten und Königen mit dickem Kopf und weißem Fell. Das alles eingepasst in eine polare Eislandschaft, die Schafe waren durch kleine Seehunde ersetzt. Dieses Jahr war Herr Kurz der Gewinner.
Das ließ Herrn Lang nicht ruhen. Ein Dinosaurierfilm brachte ihn auf die Idee. Die Saurierkrippe war geboren: Jesus, Maria und Josef als friedliche Brontosaurier, der Verkündigungsengel als Flugechse mit beachtlicher Spannweite. Ein Tyrannosaurus Rex stand neben dem Stall; er hatte zwar mit dem Weihnachtsgeschehen gar nichts zu tun, aber er sah zumindest eindrucksvoll aus. Keine Frage, wer von den Krippenhändlern diesmal mehr Umsatz machte.
Im Jahr darauf brachte Herr Kurz die Unterwasserkrippe auf den Markt. Josef als Karpfen, Maria als Forelle; das Jesuskind war als leuchtender Neonfisch in einer weißen Muschelschale der besondere Clou, und die drei Könige schwammen passenderweise als Goldfische daher. Nicht nur bei Aquarienbesitzern war die Krippe der Renner.
So ging es Jahr um Jahr weiter. Es kam bei Lang die Harry-Potter-Krippe mit Ron und Hermine als Josef und Maria, mit Hagrid als Hirten und Harry, Fred und George als Magier aus dem Ostern. Voldemort stand als König Herodes im Hintergrund.
Es erschien wieder ein Jahr später am Stand von Herrn Kurz die Entenhausen-Krippe: Donald und Daisy Duck schlüpften in die Rolle des heiligen Paares, und Tick, Trick und Track kamen als Sternsinger. Auch Onkel Dagobert besuchte die Krippe mit einer Kassette voller Gold – natürlich aus Plastik.
Der Clou des nächsten Jahres bei Lang war eine Krippe nur aus Barbie-Puppen. Die war allerdings nur für Reichere bestimmt und lief nicht so gut.
Dafür war die Kurzsche Krieg-der-Sterne-Krippe wieder ein Renner mit Prinzessin Leia als Maria und Han Solo als Josef. Luke Skywalker durfte Engel sein, und die Schafe waren die fantastischsten Aliens mit zwei bis sechs Köpfen und bis zu siebzehn Beinen. Obi-Wan Kenobi, Darth Vader und Yoda gaben eindrucksvolle Könige.
Dagegen war die Gebrüder-Grimm-Krippe von Herrn Lang fast brav, aber Schneewittchen als Maria, das tapfere Schneiderlein als Josef und dem Goldesel aus Tischlein-deck-dich natürlich als Esel kamen vor allem bei den Eltern von kleineren Kindern gut an. Den Umsatz steigerte noch eine pfiffige Idee: Maria gab es wahlweise auch als Dornröschen, Aschenputtel oder Rotkäppchen; viele Eltern waren unsicher, welche Figur ihren Kindern am besten gefallen würde. Also kauften sie sicherheitshalber alle vier Marien.
Herr Kurz war voll Neid, und in seinem Kopf begann für nächstes Jahr schon eine Erotik-Krippe Gestalt anzunehmen; damit konnte er vielleicht alles toppen. Aber Herr Lang freute sich über das gute Geschäft von diesem Jahr.
***
Gar nicht freute sich Pfarrer Simon, der seine Kirche und sein Pfarrhaus neben dem Weihnachtsmarkt hatte. Jedes Jahr ärgerte er sich mehr über die Ideen von Kurz und Lang, die mit Weihnachten gar nicht zu tun hatten. Es ging anscheinend nur noch um das Geschäft. Und als er am Abend in der Kirche saß, da sagte er halb betend und halb klagend:
„Herr, so geht das nicht weiter. Siehst du, was sie aus deiner Geburt gemacht haben? Geld, Geld, Geld: keine Idee ist verrückt genug, um noch mehr Umsatz zu machen. Die Geschichte von deiner Geburt wird ausgeschlachtet wie eine Weihnachtsgans. Du hast doch damals im Tempel die Stände der Händler umgeworfen. Soll ich so etwas in der Art auch machen?“
Und es schien ihm, als ob der Herr antworten würde:
„Simon, ich würde manchmal selbst gern dreinschlagen. Es wäre kein Problem, den heuchlerischen Weihnachtsmarkt mit einem kleinen, heftigen Schneesturm zu schließen oder drei Wochen Dauerregen zu schicken, so dass niemand mehr Lust zum Kaufen hat. Aber ich tue das nicht.“
Und Simon wandte ein: „Aber stört dich das nicht: Du als Elch, als Ente, als Saurier, als Außerirdischer – die Leute machen dich doch zum Gespött.“
Und wieder hörte er die Stimme in sich: „Ich mag das alles nicht. Aber zum Gespött zu werden, das passiert mir nicht zum ersten Mal. Der Spott damals am Kreuz, der tat viel mehr weh. Das hier – das sind nur kleine Dummheiten.“
„Aber Herr, muss man diese Dummheiten dulden – man kann ja auch Verdummung sagen.“ So klagte Simon.
Und wieder hörte er: „Bei all diesen Verdrehungen: Vielleicht bleibt der Kern der Botschaft doch bei manchen hängen, der Kern der Botschaft, dass ich Mensch unter Menschen war. Die alten Krippen, die ließen mich in Oberbayern oder in Franken oder in Italien geboren werden, in der Lebenswelt der Menschen, wie sie sie kannten. Vielleicht sind Eisbären und Zauberer und Donald Duck heute auch die Welt – ich meine die Denkwelt – mancher Menschen. Vielleicht kommt doch etwas an.
Du aber, tu was deine Aufgabe ist: Setze Besseres dagegen. Verkündige meine Geburt mit den Worten, die dir und mir vertraut sind. Keine Angst, die haben ihre eigene Kraft und kommen an. In jenen Tagen erließ der Kaiser Augustus den Befehl … – du weißt selbst, wie es weitergeht. Bleib einfach dieser Botschaft treu. Das genügt.“
Weihnachtsmarktwirtschaft
Die Stadt war nicht besonders groß. Aber sie hatte ein romantisches mittelalterliches Stadtbild, und Touristen kamen gar nicht wenige. So leistete man sich auch jährlich einen Weihnachtsmarkt, der größer war, als die Stadt erwarten ließ.
Neben vielen anderen Dingen, die zu einem Weihnachtsmarkt gehören, also neben Glühwein und Popcorn, neben Kerzen und warmer Winterkleidung gab es auch zwei Stände mit geschnitzten Krippenfiguren in vielen Größen; und für die Leute mit weniger Geld hatten die Händler auch billigere Figuren aus Plastik bereitstehen. Der eine Stand gehörte Herrn Lang, der andere Herrn Kurz, und die Geschäfte liefen jahrelang so einigermaßen.
Aber wie es so geht: Eines Tages hatte jede Familie in der Stadt eine Krippe von Herrn Kurz oder Herrn Lang zu Hause stehen, und den Touristen saß das Geld auch nicht mehr so locker.
Da hatte Herr Lang eine Idee. Bei einer Kunststoffgießerei gab er eine völlig neue Krippe in Auftrag und brachte sie auf den Markt. So etwas war noch nie da gewesen. Und in diesem Jahr machte Herr Lang doppelt so viel Umsatz wie im Vorjahr und dreimal so viel wie Herr Kurz. Die Idee: Seine Krippenfiguren waren kleine Elche. Josef als großer Elch mit gewaltigem Geweih, Maria als etwas kleinere und geweihlose Elchkuh, das Jesuskind als winzig kleiner Elch mit einem ganz winzigen Geweih, die Hirten, die drei Könige: alles Elche. Nur die Schafe durften Schafe bleiben.
„Ach wie süß“, sagten viele – und kauften. Die Gewinnspanne pro Krippe war nur klein, aber die Masse macht’s bekanntlich. Am Heiligen Abend konnte Herr Lang hochzufrieden seinen Stand schließen. Alle Elche waren punktgenau verkauft.
Herr Kurz war alles andere als zufrieden. Er musste entweder eine neue Idee haben oder den Stand am Weihnachtsmarkt aufgeben. Er hatte Glück. Im Sommer wurde im Zoo der nahegelegenen Großstadt ein kleiner Eisbär geboren. Da ihn die Mutter nicht annahm, musste er mit der Hand aufgezogen werden. Die Zeitungen waren voll von dieser rührenden Geschichte.
Und Herr Kurz hatte nun seine Idee. Im Dezember gab es an seinem Stand jetzt eine Eisbärenkrippe: Jesus als kleiner Eisbär, umsorgt von Josef und Maria in Eisbärengestalt, besucht von Hirten und Königen mit dickem Kopf und weißem Fell. Das alles eingepasst in eine polare Eislandschaft, die Schafe waren durch kleine Seehunde ersetzt. Dieses Jahr war Herr Kurz der Gewinner.
Das ließ Herrn Lang nicht ruhen. Ein Dinosaurierfilm brachte ihn auf die Idee. Die Saurierkrippe war geboren: Jesus, Maria und Josef als friedliche Brontosaurier, der Verkündigungsengel als Flugechse mit beachtlicher Spannweite. Ein Tyrannosaurus Rex stand neben dem Stall; er hatte zwar mit dem Weihnachtsgeschehen gar nichts zu tun, aber er sah zumindest eindrucksvoll aus. Keine Frage, wer von den Krippenhändlern diesmal mehr Umsatz machte.
Im Jahr darauf brachte Herr Kurz die Unterwasserkrippe auf den Markt. Josef als Karpfen, Maria als Forelle; das Jesuskind war als leuchtender Neonfisch in einer weißen Muschelschale der besondere Clou, und die drei Könige schwammen passenderweise als Goldfische daher. Nicht nur bei Aquarienbesitzern war die Krippe der Renner.
So ging es Jahr um Jahr weiter. Es kam bei Lang die Harry-Potter-Krippe mit Ron und Hermine als Josef und Maria, mit Hagrid als Hirten und Harry, Fred und George als Magier aus dem Ostern. Voldemort stand als König Herodes im Hintergrund.
Es erschien wieder ein Jahr später am Stand von Herrn Kurz die Entenhausen-Krippe: Donald und Daisy Duck schlüpften in die Rolle des heiligen Paares, und Tick, Trick und Track kamen als Sternsinger. Auch Onkel Dagobert besuchte die Krippe mit einer Kassette voller Gold – natürlich aus Plastik.
Der Clou des nächsten Jahres bei Lang war eine Krippe nur aus Barbie-Puppen. Die war allerdings nur für Reichere bestimmt und lief nicht so gut.
Dafür war die Kurzsche Krieg-der-Sterne-Krippe wieder ein Renner mit Prinzessin Leia als Maria und Han Solo als Josef. Luke Skywalker durfte Engel sein, und die Schafe waren die fantastischsten Aliens mit zwei bis sechs Köpfen und bis zu siebzehn Beinen. Obi-Wan Kenobi, Darth Vader und Yoda gaben eindrucksvolle Könige.
Dagegen war die Gebrüder-Grimm-Krippe von Herrn Lang fast brav, aber Schneewittchen als Maria, das tapfere Schneiderlein als Josef und dem Goldesel aus Tischlein-deck-dich natürlich als Esel kamen vor allem bei den Eltern von kleineren Kindern gut an. Den Umsatz steigerte noch eine pfiffige Idee: Maria gab es wahlweise auch als Dornröschen, Aschenputtel oder Rotkäppchen; viele Eltern waren unsicher, welche Figur ihren Kindern am besten gefallen würde. Also kauften sie sicherheitshalber alle vier Marien.
Herr Kurz war voll Neid, und in seinem Kopf begann für nächstes Jahr schon eine Erotik-Krippe Gestalt anzunehmen; damit konnte er vielleicht alles toppen. Aber Herr Lang freute sich über das gute Geschäft von diesem Jahr.
***
Gar nicht freute sich Pfarrer Simon, der seine Kirche und sein Pfarrhaus neben dem Weihnachtsmarkt hatte. Jedes Jahr ärgerte er sich mehr über die Ideen von Kurz und Lang, die mit Weihnachten gar nicht zu tun hatten. Es ging anscheinend nur noch um das Geschäft. Und als er am Abend in der Kirche saß, da sagte er halb betend und halb klagend:
„Herr, so geht das nicht weiter. Siehst du, was sie aus deiner Geburt gemacht haben? Geld, Geld, Geld: keine Idee ist verrückt genug, um noch mehr Umsatz zu machen. Die Geschichte von deiner Geburt wird ausgeschlachtet wie eine Weihnachtsgans. Du hast doch damals im Tempel die Stände der Händler umgeworfen. Soll ich so etwas in der Art auch machen?“
Und es schien ihm, als ob der Herr antworten würde:
„Simon, ich würde manchmal selbst gern dreinschlagen. Es wäre kein Problem, den heuchlerischen Weihnachtsmarkt mit einem kleinen, heftigen Schneesturm zu schließen oder drei Wochen Dauerregen zu schicken, so dass niemand mehr Lust zum Kaufen hat. Aber ich tue das nicht.“
Und Simon wandte ein: „Aber stört dich das nicht: Du als Elch, als Ente, als Saurier, als Außerirdischer – die Leute machen dich doch zum Gespött.“
Und wieder hörte er die Stimme in sich: „Ich mag das alles nicht. Aber zum Gespött zu werden, das passiert mir nicht zum ersten Mal. Der Spott damals am Kreuz, der tat viel mehr weh. Das hier – das sind nur kleine Dummheiten.“
„Aber Herr, muss man diese Dummheiten dulden – man kann ja auch Verdummung sagen.“ So klagte Simon.
Und wieder hörte er: „Bei all diesen Verdrehungen: Vielleicht bleibt der Kern der Botschaft doch bei manchen hängen, der Kern der Botschaft, dass ich Mensch unter Menschen war. Die alten Krippen, die ließen mich in Oberbayern oder in Franken oder in Italien geboren werden, in der Lebenswelt der Menschen, wie sie sie kannten. Vielleicht sind Eisbären und Zauberer und Donald Duck heute auch die Welt – ich meine die Denkwelt – mancher Menschen. Vielleicht kommt doch etwas an.
Du aber, tu was deine Aufgabe ist: Setze Besseres dagegen. Verkündige meine Geburt mit den Worten, die dir und mir vertraut sind. Keine Angst, die haben ihre eigene Kraft und kommen an. In jenen Tagen erließ der Kaiser Augustus den Befehl … – du weißt selbst, wie es weitergeht. Bleib einfach dieser Botschaft treu. Das genügt.“
erzählt von Peter Wünsche
Macht hoch die Tür, die Tor macht weit; es kommt der Herr der Herrlichkeit, ei König aller Königreich, ein Heiland aller Welt zugleich, der heil und Leben mit sich bringt; derhalben jauchzt mit FRuéuden singt: Gelobt sei mei mein Gott, mein Schöpfer reich von Rat. EG 1,1
Psalm 24 Die Erde ist des HERRN und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen. Denn er hat ihn über den Meeren gegründet und über den Wassern bereitet. Wer darf auf des HERRN Berg gehen, und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte? Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist, wer nicht bedacht ist auf Lüge und nicht schwört zum Trug: der wird den Segen vom HERRN empfangen und Gerechtigkeit von dem Gott seines Heiles. Das ist das Geschlecht, das nach ihm fragt, das da sucht dein Antlitz, Gott Jakobs.
Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe! Wer ist der König der Ehre? Es ist der HERR, stark und mächtig, der HERR, mächtig im Streit.
Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe! Wer ist der König der Ehre? Es ist der HERR Zebaoth; er ist der König der Ehre.
Der kleine Tannenbaum.
Psalm 24 Die Erde ist des HERRN und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen. Denn er hat ihn über den Meeren gegründet und über den Wassern bereitet. Wer darf auf des HERRN Berg gehen, und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte? Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist, wer nicht bedacht ist auf Lüge und nicht schwört zum Trug: der wird den Segen vom HERRN empfangen und Gerechtigkeit von dem Gott seines Heiles. Das ist das Geschlecht, das nach ihm fragt, das da sucht dein Antlitz, Gott Jakobs.
Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe! Wer ist der König der Ehre? Es ist der HERR, stark und mächtig, der HERR, mächtig im Streit.
Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe! Wer ist der König der Ehre? Es ist der HERR Zebaoth; er ist der König der Ehre.
Der kleine Tannenbaum.
Der kleine Tannenbaum stand schon einige Zeit mit seinen Freunden auf der Wiese hinter dem großen Maisfeld. Der kleine Tannenbaum war schon immer etwas kleiner als die anderen Tannenbäume gewesen. Das alleine war ja nicht schlimm. Er konnte aber einfach nicht gut sehen, weil ihm immer irgendwelche langen Tannenzweige seiner Freund die Sicht behinderten. Das wurde auf die Dauer sehr langweilig. Besonders in der Adventszeit haderte der kleine Tannenbaum mit seiner Größe. Hinter dem Maisfeld standen die ersten Häuser des zu der Zeit immer schon weihnachtlich geschmückten Dorfes. Da er aber nicht weit gucken konnte, sah er zwischen den Tannenzweigen seiner Tannenbaum-Freunde immer nur einige Lichtlein aufblitzen. Wie sehr wünschte er sich, dass er doch einen Tag auch mal freie Sicht hatte…
Die Adventszeit näherte sich dem Ende. Es ging auf Weihnachten zu. An jedem Tag wünschte sich der kleine Tannenbaum, endlich einmal weit schauen zu können, an den Adventssonntagen sprach er seinen Wunsch sogar drei Mal aus.
Am vierten Advent, der kleine Tannenbaum hielt gerade seinen Mittagsschlaf, wurde er durch ein lautes Geräusch geweckt. Er rieb sich die Augen, konnte aber nicht erkennen, was um ihn herum vor sich ging – er war ja nun mal ein sehr kleiner Tannenbaum gewesen. Er hörte noch ein lautes Knacken und sah dann, wie Oskar, der Tannenbaum, der direkt vor ihm gestanden hatte, fortgetragen wurde. Oskar hatte zu Weihnachten ein neues Zuhause gefunden und alle anderen Tannenbäume verabschiedeten sich mit freudig rüttelnden Tannenzweigen von ihm. Der kleine Tannenbaum rüttelte mit.
Er benötigte einige Minuten um zu begreifen, was da geschehen war. Er war so von den Lichtern des weihnachtlich geschmückten Dorfes geblendet, dass er sich erst einmal daran gewöhnen musste. Er konnte sehen! Er konnte weit sehen! Er konnte ALLE Lichter sehen – bei einigen Häusern konnte er sogar in die Fenster schauen. Der große Wunsch des kleinen Tannenbaums war also in Erfüllung gegangen. Wäre er nicht so fest verwurzelte gewesen, wäre er vor Freude in die Luft gesprungen!
Am nächsten Tag hatte der kleine Tannenbaum keine Zeit zu Schlafen. Er schaute sich um und beobachtete ganz genau, was um ihn herum geschah. Es war ein aufregender Tag und spannende darauf folgende Monate.
Der kleine Tannenbaum wuchs im nächsten Jahr und wurde ein kräftiger, stolzer Tannenbaum. In der darauf folgenden Adventszeit fand auch er ein neues Zuhause und erlebte ein wunderschönes Weihnachtsfest als festlich geschmückter Weihnachtsbaum…
Erzählt von Annika Schneider
Die Adventszeit näherte sich dem Ende. Es ging auf Weihnachten zu. An jedem Tag wünschte sich der kleine Tannenbaum, endlich einmal weit schauen zu können, an den Adventssonntagen sprach er seinen Wunsch sogar drei Mal aus.
Am vierten Advent, der kleine Tannenbaum hielt gerade seinen Mittagsschlaf, wurde er durch ein lautes Geräusch geweckt. Er rieb sich die Augen, konnte aber nicht erkennen, was um ihn herum vor sich ging – er war ja nun mal ein sehr kleiner Tannenbaum gewesen. Er hörte noch ein lautes Knacken und sah dann, wie Oskar, der Tannenbaum, der direkt vor ihm gestanden hatte, fortgetragen wurde. Oskar hatte zu Weihnachten ein neues Zuhause gefunden und alle anderen Tannenbäume verabschiedeten sich mit freudig rüttelnden Tannenzweigen von ihm. Der kleine Tannenbaum rüttelte mit.
Er benötigte einige Minuten um zu begreifen, was da geschehen war. Er war so von den Lichtern des weihnachtlich geschmückten Dorfes geblendet, dass er sich erst einmal daran gewöhnen musste. Er konnte sehen! Er konnte weit sehen! Er konnte ALLE Lichter sehen – bei einigen Häusern konnte er sogar in die Fenster schauen. Der große Wunsch des kleinen Tannenbaums war also in Erfüllung gegangen. Wäre er nicht so fest verwurzelte gewesen, wäre er vor Freude in die Luft gesprungen!
Am nächsten Tag hatte der kleine Tannenbaum keine Zeit zu Schlafen. Er schaute sich um und beobachtete ganz genau, was um ihn herum geschah. Es war ein aufregender Tag und spannende darauf folgende Monate.
Der kleine Tannenbaum wuchs im nächsten Jahr und wurde ein kräftiger, stolzer Tannenbaum. In der darauf folgenden Adventszeit fand auch er ein neues Zuhause und erlebte ein wunderschönes Weihnachtsfest als festlich geschmückter Weihnachtsbaum…
Erzählt von Annika Schneider
1. Dezember 2020
Wir sagen euch an den lieben Advent. Sehet die erste Kerze brennt. Wir sagen euch an eine heilige Zeit. Machet dem Herrn den Weg bereit. Freut euch ihr Christen, freuet euch sehr, schon ist nahe der Herr. EG 17,1
Eine Liedstrophe darf natürlich nicht fehlen bei unserem Adventskalender und gehört an jedem tag genauso dazu wie eine Geschichte:
Wie lang denn noch?
„Pastor Wichern, wie lange ist es noch bis Weihnachten?“, fragte Hans den Direktor.
„Siebenundzwanzig Tage noch, Hans“ antwortete Pastor Wichern.„Und wie viel ist das, siebenundzwanzig?“, kam als Frage zurück.
„Fünf Hände und zwei Finger!“, sagte der Pastor.„Aber ich habe doch nur zwei Hände. Ist siebenundzwanzig Tage noch sehr lang?“So war Hans. Er war sechs Jahre alt. Das Schuljahr begann damals immer nach Ostern, und ab dem kommenden Ostern sollte er die Schule besuchen. Deswegen fiel es ihm noch ziemlich schwer, sich eine so große Zahl wie siebenundzwanzig vorzustellen. Aber er gab sich alle Mühe, die Welt zu verstehen.Als Hans geboren wurde, starb seine Mutter. Das war gar nicht selten in diesen Jahren um 1830. Kindbettfieber hieß die Krankheit; dass sie durch Bakterien verursacht wurde, wusste man damals noch nicht. Man nahm es einfach als Schicksal hin, dass immer wieder Mütter in den Tagen nach der Geburt daran starben.
Hans‘ Vater hieß Hein und war Steuermann von Beruf. Er war der Erste Steuermann auf einem großen Segelschiff mit vier Masten, und er lenkte das Schiff geschickt durch Wind und Wetter, von Hamburg ausgehend mal nach Westafrika und mal nach Amerika und wieder zurück. Er verdiente deutlich mehr als ein einfacher Matrose, wenngleich bei weitem nicht so viel wie sein Kapitän. Immerhin hatte er am Stadtrand von Hamburg ein kleines Häuschen, das er unterhalten konnte. Leider war er nur selten zu Hause. Die Reisen mit dem Segelschiff dauerten oft viele Wochen, und wenn er zu einer Fahrt aufbrach, konnte er nie ganz genau sagen, wann er wieder zurückkommen würde. Und oft musste er nach wenigen Tagen in Hamburg schon wieder aufbrechen.
Heins kleiner Sohn Hans hatte die ersten Jahre bei seiner Großmutter gelebt. Aber die war jetzt alt und schwach und konnte nicht mehr für ein kleines Kind sorgen. Hans‘ Vater hatte lang überlegt, was mit Hans geschehen sollte. Die meisten Kinderheime in dieser Zeit waren schlecht; es gab wenig zu essen, viel Arbeit und noch mehr Prügel. Das kam nicht in Frage.
Aber dann hatte Hein vom Rauhen Haus gehört. Das war ein Kinderheim, das anders war. Die Kinder lebten in kleinen Gruppen zusammen, die man „Familien“ nannte. Sie wurden durch Schule und handwerkliche Arbeit auf einen guten Beruf auf See oder an Land vorbereitet. Pastor Johann Hinrich Wichern hatte das Haus gegründet, das war im Jahr 1833, und leitete es zusammen mit seiner Frau. Den Namen hatte er von einem alten Bauernhaus übernommen, das schon vorher dort stand. Damals wusste niemand, woher der Name Rauhes Haus ursprünglich kam, und man weiß es bis heute nicht. Der Name passte gar nicht zu dem neuen Kinderheim, denn rau ging es da ganz und gar nicht zu. Pastor Wichern, seine Frau und einige Helfer, die man „Brüder“ und „Schwestern“ nannte, versuchten, die 50 Kinder mit Liebe und Milde zu erziehen und mit möglichst wenig Strafen auszukommen. Das war für diese Zeit ungewöhnlich, aber es funktionierte.Und so schien es Hein am besten, den fünfjährigen Hans in das Rauhe Haus zu geben. Es schmerzte ihn selbst, aber er fand in der Stadt keine Arbeit, die ihm entsprach; er hatte keine Wahl, das Haus war die beste Lösung. Hans war anfangs der Jüngste im Rauhen Haus, aber nach einem halben Jahr hatte er sich einigermaßen eingewöhnt, vermisste seinen Vater, aber war sonst ganz zufrieden, hatte seinen sechsten Geburtstag gefeiert und auch ein paar Freunde gefunden.
„Wie lange ist es noch bis Weihnachten?“, so fragte also Hans den Pastor Wichern – wieder einmal. Und der überlegte: Wie mache ich einem Vorschulkind klar, was 27 Tage sind? Er wusste, dass für den kleinen Hans die Frage besonders wichtig war, wichtiger noch als für die anderen Kinder. Sein Vater hatte gesagt, dass er um Weihnachten wieder in Hamburg sein werde. Und so war Hans von einer doppelten Vorfreude geprägt: Von der Erwartung von Weihnachten und vom ersehnten Wiedersehen mit seinem Vater.Und Pastor Wichern hatte eine Idee. Er ließ von den großen Kindern im Werkunterricht in ein ausgedientes Wagenrad 20 kleinere und vier größere Löcher bohren. In die großen Löcher kamen vier große weiße Kerzen, in die anderen zwanzig kleinere rote Kerzen. Nach drei Tagen war alles fertig.Der 1. Dezember 1839 war ein Sonntag. Als die Kinder zum Morgengebet in den großen Betsaal im Rauhen Haus kamen, staunten sie nicht schlecht. Das Wagenrad hing waagrecht von der Decke wie ein Kronleuchter, und von den 24 Kerzen brannte eine einzige, eine von den großen weißen.Und Pastor Wichern sagte: „Das ist ein Adventsrad. Von den 24 Kerzen zünden wir jetzt zum Morgen- und Abendgebet jeden Tag eine mehr an, am Sonntag eine große weiße, an den Wochentagen eine kleine rote. Dann könnt ihr immer sehen, wie lange es noch bis Weihnachten ist.“Für Hans war das ganz wunderbar. Erstens machte die große Kerze ein schönes Licht. Zweitens konnte er sich vorstellen, dass es nun jeden Tag noch heller und schöner würde. Und an den Kerzen, die noch nicht brannten, konnte er immer sehen, wie viele Tage es noch bis Weihnachten waren. Es war ein großer Trost, dass es jeden Tag eine weniger war, die dunkel blieb.Dann passierte noch etwas Schönes. Erik, ein Junge aus seiner Wohngruppe, der schon in die vierte Klasse ging und Hans auch sonst bei vielen Dingen half, der ging mit ihm immer schon ein paar Minuten vor dem Gebet in den Betsaal; dann schauten sie dem Hausmeister, der zugleich Küster im Betsaal war, beim Lichteranzünden zu und zählten halblaut mit und zählten auch bei den dunklen Kerzen weiter. Und nach einer Woche konnte Hans flüssig bis 24 zählen und musste sich nicht mehr mühsam vier Hände und vier Finger vorstellen.So ging der Advent schnell vorbei, auch für Hans. Am vierten Adventssonntag brannten schon fast alle Lichter an dem Wagenrad-Leuchter; es war ein prächtiger Anblick, und die Vorfreude bei den Kindern wurde immer größer. Und dann kam zwei Tage später, am Dienstag, der Heilige Abend. Beim Morgengebet leuchteten erstmals alle 24 Kerzen. Jetzt waren es nur noch ein paar Stunden.Und am späten Nachmittag wurde der Adventsleuchter sogar noch durch den Weihnachtsbaum übertroffen, der über und über mit Kerzen bestückt war. Hans staunte mit offenem Mund. Und so begann mit einer Hausandacht das Weihnachtsfest im Rauhen Haus. Man sang Weihnachtslieder; vor allem das Lied „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ stand in hohen Ehren, da es von Martin Luther selbst gedichtet war und in schlichten Worten, die man leicht auswendig lernen konnten, das Weihnachtsgeschehen nacherzählte. Dann gab es, wie im Norden üblich, als Abendessen Würstchen mit Kartoffelsalat, was damals als eine besondere Köstlichkeit galt.Nach dem Essen verteilte Pastor Wichern die Geschenke. Hans bekam ein kleines Päckchen, das sein Vater aus Afrika mit einem anderen Schiff vorausgeschickt hatte: Kleine Figuren, aus Zinn gegossen, aber keine Soldaten, wie sie viel Jungen hatten, sondern Tiere aus der Wildnis: ein Löwenpaar, ein Zebra, ein Nashorn, ein Nilpferd, sogar eine Giraffe und ein Elefant waren dabei. Hans war glücklich, fast vollkommen glücklich. So etwas hatte er sich schon lange gewünscht. Nur eines vermisste er noch.Am ersten Weihnachtsfeiertag gingen dann alle Bewohner des Rauhen Hauses wie immer an Sonn- und Feiertagen in die nahe gelegene Pfarrkirche zum Gottesdienst. Und auf dem Rückweg sah Hans von ferne einen Mann am Haupteingang des Kinderhauses stehen. Eigentlich mussten die Kleinen beim Kirchgang schön zwei und zwei in der Reihe gehen. Aber Hans vergaß das. Er rannte los, auf den Mann am Eingang zu. „Papa!“, rief er immer wieder. Pastor Wichern wusste, dass den kleinen Hans jetzt niemand halten konnte, und ließ ihn laufen. Und dann lagen sich Vater und Sohn in den Armen. Das 24-tägige Warten war jetzt ganz zu Ende.
Und die Geschichte ist es eigentlich auch. Es gibt nur noch zwei kurze Nachträge.
Zum einen: Im Rauhen Haus schmückte man ein paar Jahre später das Wagenrad immer mit grünen Tannenzweigen. So wurde aus dem Adventsrad der Adventskranz. Viele übernahmen die Idee von Pastor Wichern, aber in kleinen Wohnungen haben nur kleine Kränze Platz, und so mussten die Werktagskerzen fast überall wegfallen.
Zum anderen: Der Steuermann Hein fand in Hamburg Arbeit auf einem der damals ganz neuen kleinen Dampfschiffe, die die großen Segler die Elbe hinauf- und herunterschleppten. So konnten die trägen Segelschiffe den Hafen schneller und sicherer erreichen, auch gegen den Wind. Jeden zweiten Sonntag hatte Hein frei; er holte dann Hans nach Hause und im Sommerurlaub auch. Sonst blieb Hans bis zum Ende der Schulzeit im Rauhen Haus, wurde dann mit dreizehn Jahren Schiffsjunge und mit siebzehn Matrose und war mit fünfundzwanzig ein geschickter und geschätzter Hafenschlepper-Steuermann wie sein Vater. Und als er selbst heiratete und Kinder hatte, gab es in seiner Familie jedes Jahr einen Adventskranz und in vielen anderen Familien und Kirchen auch – bis heute.
Eine Liedstrophe darf natürlich nicht fehlen bei unserem Adventskalender und gehört an jedem tag genauso dazu wie eine Geschichte:
Wie lang denn noch?
„Pastor Wichern, wie lange ist es noch bis Weihnachten?“, fragte Hans den Direktor.
„Siebenundzwanzig Tage noch, Hans“ antwortete Pastor Wichern.„Und wie viel ist das, siebenundzwanzig?“, kam als Frage zurück.
„Fünf Hände und zwei Finger!“, sagte der Pastor.„Aber ich habe doch nur zwei Hände. Ist siebenundzwanzig Tage noch sehr lang?“So war Hans. Er war sechs Jahre alt. Das Schuljahr begann damals immer nach Ostern, und ab dem kommenden Ostern sollte er die Schule besuchen. Deswegen fiel es ihm noch ziemlich schwer, sich eine so große Zahl wie siebenundzwanzig vorzustellen. Aber er gab sich alle Mühe, die Welt zu verstehen.Als Hans geboren wurde, starb seine Mutter. Das war gar nicht selten in diesen Jahren um 1830. Kindbettfieber hieß die Krankheit; dass sie durch Bakterien verursacht wurde, wusste man damals noch nicht. Man nahm es einfach als Schicksal hin, dass immer wieder Mütter in den Tagen nach der Geburt daran starben.
Hans‘ Vater hieß Hein und war Steuermann von Beruf. Er war der Erste Steuermann auf einem großen Segelschiff mit vier Masten, und er lenkte das Schiff geschickt durch Wind und Wetter, von Hamburg ausgehend mal nach Westafrika und mal nach Amerika und wieder zurück. Er verdiente deutlich mehr als ein einfacher Matrose, wenngleich bei weitem nicht so viel wie sein Kapitän. Immerhin hatte er am Stadtrand von Hamburg ein kleines Häuschen, das er unterhalten konnte. Leider war er nur selten zu Hause. Die Reisen mit dem Segelschiff dauerten oft viele Wochen, und wenn er zu einer Fahrt aufbrach, konnte er nie ganz genau sagen, wann er wieder zurückkommen würde. Und oft musste er nach wenigen Tagen in Hamburg schon wieder aufbrechen.
Heins kleiner Sohn Hans hatte die ersten Jahre bei seiner Großmutter gelebt. Aber die war jetzt alt und schwach und konnte nicht mehr für ein kleines Kind sorgen. Hans‘ Vater hatte lang überlegt, was mit Hans geschehen sollte. Die meisten Kinderheime in dieser Zeit waren schlecht; es gab wenig zu essen, viel Arbeit und noch mehr Prügel. Das kam nicht in Frage.
Aber dann hatte Hein vom Rauhen Haus gehört. Das war ein Kinderheim, das anders war. Die Kinder lebten in kleinen Gruppen zusammen, die man „Familien“ nannte. Sie wurden durch Schule und handwerkliche Arbeit auf einen guten Beruf auf See oder an Land vorbereitet. Pastor Johann Hinrich Wichern hatte das Haus gegründet, das war im Jahr 1833, und leitete es zusammen mit seiner Frau. Den Namen hatte er von einem alten Bauernhaus übernommen, das schon vorher dort stand. Damals wusste niemand, woher der Name Rauhes Haus ursprünglich kam, und man weiß es bis heute nicht. Der Name passte gar nicht zu dem neuen Kinderheim, denn rau ging es da ganz und gar nicht zu. Pastor Wichern, seine Frau und einige Helfer, die man „Brüder“ und „Schwestern“ nannte, versuchten, die 50 Kinder mit Liebe und Milde zu erziehen und mit möglichst wenig Strafen auszukommen. Das war für diese Zeit ungewöhnlich, aber es funktionierte.Und so schien es Hein am besten, den fünfjährigen Hans in das Rauhe Haus zu geben. Es schmerzte ihn selbst, aber er fand in der Stadt keine Arbeit, die ihm entsprach; er hatte keine Wahl, das Haus war die beste Lösung. Hans war anfangs der Jüngste im Rauhen Haus, aber nach einem halben Jahr hatte er sich einigermaßen eingewöhnt, vermisste seinen Vater, aber war sonst ganz zufrieden, hatte seinen sechsten Geburtstag gefeiert und auch ein paar Freunde gefunden.
„Wie lange ist es noch bis Weihnachten?“, so fragte also Hans den Pastor Wichern – wieder einmal. Und der überlegte: Wie mache ich einem Vorschulkind klar, was 27 Tage sind? Er wusste, dass für den kleinen Hans die Frage besonders wichtig war, wichtiger noch als für die anderen Kinder. Sein Vater hatte gesagt, dass er um Weihnachten wieder in Hamburg sein werde. Und so war Hans von einer doppelten Vorfreude geprägt: Von der Erwartung von Weihnachten und vom ersehnten Wiedersehen mit seinem Vater.Und Pastor Wichern hatte eine Idee. Er ließ von den großen Kindern im Werkunterricht in ein ausgedientes Wagenrad 20 kleinere und vier größere Löcher bohren. In die großen Löcher kamen vier große weiße Kerzen, in die anderen zwanzig kleinere rote Kerzen. Nach drei Tagen war alles fertig.Der 1. Dezember 1839 war ein Sonntag. Als die Kinder zum Morgengebet in den großen Betsaal im Rauhen Haus kamen, staunten sie nicht schlecht. Das Wagenrad hing waagrecht von der Decke wie ein Kronleuchter, und von den 24 Kerzen brannte eine einzige, eine von den großen weißen.Und Pastor Wichern sagte: „Das ist ein Adventsrad. Von den 24 Kerzen zünden wir jetzt zum Morgen- und Abendgebet jeden Tag eine mehr an, am Sonntag eine große weiße, an den Wochentagen eine kleine rote. Dann könnt ihr immer sehen, wie lange es noch bis Weihnachten ist.“Für Hans war das ganz wunderbar. Erstens machte die große Kerze ein schönes Licht. Zweitens konnte er sich vorstellen, dass es nun jeden Tag noch heller und schöner würde. Und an den Kerzen, die noch nicht brannten, konnte er immer sehen, wie viele Tage es noch bis Weihnachten waren. Es war ein großer Trost, dass es jeden Tag eine weniger war, die dunkel blieb.Dann passierte noch etwas Schönes. Erik, ein Junge aus seiner Wohngruppe, der schon in die vierte Klasse ging und Hans auch sonst bei vielen Dingen half, der ging mit ihm immer schon ein paar Minuten vor dem Gebet in den Betsaal; dann schauten sie dem Hausmeister, der zugleich Küster im Betsaal war, beim Lichteranzünden zu und zählten halblaut mit und zählten auch bei den dunklen Kerzen weiter. Und nach einer Woche konnte Hans flüssig bis 24 zählen und musste sich nicht mehr mühsam vier Hände und vier Finger vorstellen.So ging der Advent schnell vorbei, auch für Hans. Am vierten Adventssonntag brannten schon fast alle Lichter an dem Wagenrad-Leuchter; es war ein prächtiger Anblick, und die Vorfreude bei den Kindern wurde immer größer. Und dann kam zwei Tage später, am Dienstag, der Heilige Abend. Beim Morgengebet leuchteten erstmals alle 24 Kerzen. Jetzt waren es nur noch ein paar Stunden.Und am späten Nachmittag wurde der Adventsleuchter sogar noch durch den Weihnachtsbaum übertroffen, der über und über mit Kerzen bestückt war. Hans staunte mit offenem Mund. Und so begann mit einer Hausandacht das Weihnachtsfest im Rauhen Haus. Man sang Weihnachtslieder; vor allem das Lied „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ stand in hohen Ehren, da es von Martin Luther selbst gedichtet war und in schlichten Worten, die man leicht auswendig lernen konnten, das Weihnachtsgeschehen nacherzählte. Dann gab es, wie im Norden üblich, als Abendessen Würstchen mit Kartoffelsalat, was damals als eine besondere Köstlichkeit galt.Nach dem Essen verteilte Pastor Wichern die Geschenke. Hans bekam ein kleines Päckchen, das sein Vater aus Afrika mit einem anderen Schiff vorausgeschickt hatte: Kleine Figuren, aus Zinn gegossen, aber keine Soldaten, wie sie viel Jungen hatten, sondern Tiere aus der Wildnis: ein Löwenpaar, ein Zebra, ein Nashorn, ein Nilpferd, sogar eine Giraffe und ein Elefant waren dabei. Hans war glücklich, fast vollkommen glücklich. So etwas hatte er sich schon lange gewünscht. Nur eines vermisste er noch.Am ersten Weihnachtsfeiertag gingen dann alle Bewohner des Rauhen Hauses wie immer an Sonn- und Feiertagen in die nahe gelegene Pfarrkirche zum Gottesdienst. Und auf dem Rückweg sah Hans von ferne einen Mann am Haupteingang des Kinderhauses stehen. Eigentlich mussten die Kleinen beim Kirchgang schön zwei und zwei in der Reihe gehen. Aber Hans vergaß das. Er rannte los, auf den Mann am Eingang zu. „Papa!“, rief er immer wieder. Pastor Wichern wusste, dass den kleinen Hans jetzt niemand halten konnte, und ließ ihn laufen. Und dann lagen sich Vater und Sohn in den Armen. Das 24-tägige Warten war jetzt ganz zu Ende.
Und die Geschichte ist es eigentlich auch. Es gibt nur noch zwei kurze Nachträge.
Zum einen: Im Rauhen Haus schmückte man ein paar Jahre später das Wagenrad immer mit grünen Tannenzweigen. So wurde aus dem Adventsrad der Adventskranz. Viele übernahmen die Idee von Pastor Wichern, aber in kleinen Wohnungen haben nur kleine Kränze Platz, und so mussten die Werktagskerzen fast überall wegfallen.
Zum anderen: Der Steuermann Hein fand in Hamburg Arbeit auf einem der damals ganz neuen kleinen Dampfschiffe, die die großen Segler die Elbe hinauf- und herunterschleppten. So konnten die trägen Segelschiffe den Hafen schneller und sicherer erreichen, auch gegen den Wind. Jeden zweiten Sonntag hatte Hein frei; er holte dann Hans nach Hause und im Sommerurlaub auch. Sonst blieb Hans bis zum Ende der Schulzeit im Rauhen Haus, wurde dann mit dreizehn Jahren Schiffsjunge und mit siebzehn Matrose und war mit fünfundzwanzig ein geschickter und geschätzter Hafenschlepper-Steuermann wie sein Vater. Und als er selbst heiratete und Kinder hatte, gab es in seiner Familie jedes Jahr einen Adventskranz und in vielen anderen Familien und Kirchen auch – bis heute.
erzählt von Peter Wünsche